Buch über NS-Familiengeschichte: Familienidyll und Barbarei
Uta von Arnims Großvater war ein einflussreicher und brutaler NS-Arzt. Ihr Buch über ihn ist bemerkenswert und beklemmend zugleich.
Wenn das Bild des Großvaters vom netten Landarzt Risse bekommt und dahinter Fragmente eines führenden Mediziners des NS-Regimes aufscheinen, kann die Enkelin das Erfahrene mit Blick auf das Andenken des Verstorbenen beiseiteschieben. Sie kann aber auch, wie Uta von Arnim, eine Berliner Ärztin und Journalistin, zu recherchieren beginnen und Material über ihren Großvater sammeln.
Herbert Bernsdorff stammte aus Riga, war schon früh ein überzeugter Nationalsozialist, machte im Baltikum unter den Nazis Karriere und erreicht 1942 mit knapp fünfzig Jahren den Zenit seiner Macht, wie Uta von Arnim schreibt: „Er gestaltet nationalsozialistische Gesundheitspolitik für ein riesiges Gebiet: die besetzten Länder Lettland, Litauen, Estland und einen großen Teil Weißrusslands. In Riga leitet Bernsdorff die Abteilung Gesundheit und Volkspflege der deutschen Verwaltung.“
SA-Hauptsturmführer Herbert Bernsdorff wird Gesundheitsführer im Baltikum, in seine Verantwortung fallen Krankenhäuser, psychiatrische Anstalten, Wehrmachts- und Kriegsgefangenenlazarette. Er lässt jüdische Ärzte ersetzen und bestraft Mediziner, weil sie mit Einheimischen Russisch sprechen. Bernsdorff ist zudem zuständig für die medizinische Forschung in der Region.
Was Uta von Arnim hier in knappen, nüchternen Sätzen an Details zu Versuchen mit Fleckfiebererregern ausbreitet, ist als Lektüre manchmal schwer erträglich. Jüdischen Häftlingen werden kleine Schachteln mit infizierten Läusen umgebunden.
Schauplatz der Menschenversuche
„Die Läuse erkennen den Geruch menschlicher Haut. Kaum krabbeln sie auf der Haut, stechen sie durch den Stoff und saugen. Sobald sich die Läuse vermehrt haben, bekommen die Häftlinge zehn bis zwölf Läusekäfige gleichzeitig auf Arme und Beine geschnallt. Ihre zerbissene Haut ist geschwollen, juckt und schmerzt, entzündet sich, eine einzige schreckliche Wunde.“
Uta von Arnim: „Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner Forschung“. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2021, 241 Seiten, 22 Euro
Schauplatz der Menschenversuche ist ein altes Gutshaus am Rande von Riga, einst im Besitz der Bernsdorffs, ein beschaulicher Ort, wo zwischen Fluss und Meer Großmutter, Mutter, Tanten und Kinder die Sommermonate verbringen.
Der Kontrast von literarischen Passagen und nüchternen Beschreibungen, von Familienidyll und nationalsozialistischen Verbrechen machen Uta von Arnims Buch zu einer bemerkenswerten und zugleich beklemmenden Lektüre; das Ergebnis eines schwierigen und schonungslosen Annäherungsprozesses, dem sich die Autorin ausgesetzt hat.
Herbert Bernsdorff war, so von Arnim, ein großes Rad im Getriebe des NS-Regimes. Seine Leute führten nicht nur Versuche an Häftlingen durch, die Mitarbeiter wurden auch für das Bedienen der Gaskammern geschult und zu angeblichen Desinfektionen geschickt. Bernsdorff stand 1944 auf einer Kriegsverbrecherliste des sowjetischen NKWD, im Nürnberger Ärzteprozess tauchte sein Name auf, aber er wurde dennoch nie zur Rechenschaft gezogen.
Sich als Nazi-Gegner ausweisen
Die Familie kommt nach dem Krieg im Strom der Flüchtlinge aus dem Osten in Niedersachsen unter, ab 1948 arbeitet Bernsdorff wieder als Arzt. Er besorgt sich sogenannte Persilscheine, die ihn als Nazi-Gegner und Judenschützer ausweisen, aber er bleibt ein überzeugter Nationalsozialist.
Uta von Arnim beschreibt ihn als gutaussehenden Mann mit feinen Gesichtszügen und einem zurückgezogenen, schweigsamen Wesen, konservativ, kultiviert und korrekt, zugleich gefühlskalt, diktatorisch, manchmal brutal.
„Wenn mein Großvater zum Essen kommt, müssen alle schon hinter ihren immer gleichen Plätzen stehen, die Mädchen mit akkurat geflochtenen Zöpfen. Wenn nicht alle da sind, dreht er auf dem Absatz um. Kinder, die er die Unterirdischen nennt, sollen schweigen, solange sie niemand gefragt hat.“
Manchmal braucht es Jahrzehnte, bis die Nachgeborenen – wenn überhaupt – bereit und in der Lage sind, dem Leben ihrer Großeltern oder Eltern während der NS-Zeit nachzuspüren; ein schwieriges Erbe, das ihnen durch Schweigen, Verdrängen oder Beschönigen hinterlassen wurde.
Uta von Arnim ist mit ihrem Buch auf eindrückliche Weise gelungen, die Leerstellen zu füllen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo