Buch über Fortschrittsphilosophie: Gemachter Weltgeist
Gibt es überhaupt einen Fortschritt in der Geschichte? Die Philosophin Rahel Jaeggi problematisiert in ihrem neuen Buch den Fortschrittsbegriff.
Vorige Woche noch hatte Hegel hart gearbeitet, erschöpft hatte er das Manuskript für diesen epochalen Wälzer – die „Phänomenologie des Geistes“ – zur Post getragen, jetzt ist er Teil einer jubelnden Masse in der Jenaer Altstadt: Vorbei rauscht der französische Triumphzug, Napoleon voran. Euphorisiert schreibt Hegel einem Freund vom „wunderbaren Empfinden,“ diesen Weltgeist zu Pferde selbst gesehen zu haben. Für Hegel ist Napoleon ein welthistorisches Individuum, das eigenhändig sozialen Fortschritt bringt.
Rahel Jaeggi: „Fortschritt und Regression“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 252 Seiten, 28 Euro
In Rahel Jaeggis fast überzeugendem neuem Buch „Fortschritt und Regression“ wird SED-Funktionär Günther Schabowksi zu einem ähnlichen Fortschrittstreiber erkoren. Am 9. November 1989 liest er, mit vielen „Ähhhs“ gespickt, im Drehstuhl der Pressekonferenz lümmelnd, seine alles verändernden Sätze ab. Welthistorische Individuen hatten schon bessere Zeiten.
Zumindest eines eint den stolzen Napoleon und die Marionette Schabowski: Beide lösen soziale Probleme, wie Jaeggi mit Bezug auf Hegel und den amerikanischen Pragmatismus postuliert. Napoleon gibt Frankreich Bürgerrechte, Schabowski befreit die in der DDR Eingesperrten.
Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie in Berlin, hat ein Programm: Ideen aus der Philosophiegeschichte retten, an deren Rettung kaum einer mehr glaubt. Das hat sie schon in ihrem ersten Buch gemacht, zum Entfremdungsbegriff – bei Marx noch aufgeladen mit einer robusten Vorstellung der menschlichen Natur.
Machen Gesellschaften Fortschritte?
In ihrem neuen Buch bemüht sich Jaeggi nun um die Rettung der Geschichtsphilosophie. Hoffnungslos verloren ist die Idee, dass unsere Welt sich ohne viel Zutun fortschrittlich weiterentwickelt. Aber „keine Geschichtsphilosophie ist … auch keine Lösung.“ Der Begriff des Fortschritts selbst ist problembehaftet. Gelingt es Jaeggi dennoch, ihn vor dem Müllberg der Begriffsgeschichte zu retten?
„Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinne“, sagt Protagonist Ulrich in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Während Hegel Napoleon bejubelt, macht der preußische König das Gegenteil. Während wir heute Schabowski feiern, war Honecker sicher anders zumute. Ist Fortschritt also notwendigerweise relativ und damit untragbar als Kritikwerkzeug? Ja, Fortschritt auf ein bestimmtes Ziel hin ist ungeeignet, sagt Jaeggi. Wir brauchen einen anderen Fortschrittsbegriff, einen der kein Ziel ins Auge fasst, sondern einen Prozess als solchen evaluiert.
„Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme“, schreibt Jaeggi. Vielleicht machen Gesellschaften also Fortschritte, wenn sie Probleme erfolgreich lösen? Allerdings muss man hier unterscheiden zwischen Problemen erster und zweiter Ordnung. Denn soziale Gefüge verändern sich ständig, sie sind „immer schon dynamische Gebilde“, sie reagieren konstant auf Probleme erster Ordnung. Gibt es eine Dürreperiode, spart man Getreide; ist ein Gasengpass zu erwarten, füllt man die Gasspeicher. Nichts davon ist Fortschritt oder auch nur sozialer Wandel – es ist business as usual.
Ist der Weihnachtsmann echt?
Aber stellen wir uns eine menschenverachtende Monarchie vor, die Getreide verprasst und exportiert, oder eine wirtschaftsfreundliche Regierungsform, die Gasunternehmen unerhörte Gewinne erlaubt, statt die Gasversorgung zu garantieren.
In beiden Fällen sind soziale Gefüge aus spezifischen Gründen unfähig mit ihren Problemen erster Ordnung umzugehen, sie haben Probleme zweiter Ordnung: Probleme mit ihren sozialen, ökonomischen, und politischen Problemlösungsprozessen. Wenn sie diese Probleme – durch Abschaffung der Monarchie oder Gesetze zu mehr Wirtschaftskontrolle – nachhaltig lösen, dann, so Jaeggi, kann man von Fortschritt reden.
Mit diesem prozessualen Verständnis – Probleme lösen statt Ziele anpeilen – versucht Jaeggi, die Rede vom Fortschritt zu retten. Aber geht das wirklich ganz ohne Werte, ausschließlich prozessbasiert? Ist es nicht auch schon eine Lösung, die Untergebenen einfach verhungern zu lassen? Selbstverständlich wissen wir heute, dass es eine schlechte, eine grauenvolle Lösung wäre. Aber sie ist eben nur deshalb schlecht, weil wir robuste Werte wie Gleichheit und Würde aller als Teil einer guten Lösung, als Teil unserer Ziele sehen.
Dass Jaeggi diese Werte gerade nicht will, liegt daran, dass sie sich über die Zeit hin verändern. Es gibt nicht nur „Fortschritt hin zur Moral“ sondern „Fortschritt in der Moral“. Untergebene verhungern zu lassen war nicht immer grauenvoll, einst war es ein Zeichen von Stärke und harter Hand. Man kann jetzt darauf beharren, dass die einstigen einfach die falschen Werte waren.
Wer die wahren Werte kennt
Philosophisch wird das Argument hier stumpf – was macht unsere jetzigen Werte zu den richtigen, und woher wissen wir das? Und politisch ist die Sturheit eh zahnlos, denn wer lässt sich schon von einem überzeugen, der einfach behauptet, die wahren Werte zu kennen?
Aber, so kann man zurückfragen, wer lässt sich schon von der Behauptung überzeugen, dass die favorisierte Problemlösung zweiter Ordnung unpassend war? Jaeggi bringt hier selbst das Beispiel des Gouverneurs von Utah, der 2022 dazu aufrief, gegen die Austrocknung des Colorado River anzubeten. Ihm, so schreibt sie, ist „der Gedanke, dass es sich hierbei um einen defizienten Problemlösungsmechanismus zweiter Ordnung handelt, aller Voraussicht nach völlig fremd“ – touché!
Scheitert also Jaeggis Fortschrittsdefinition doch daran, dass an der entscheidenden Stelle die politischen Reißzähne fehlen? Gelegentlich schmuggelt sie Robusteres ein; dann ist die Rede von Fortschritt als „Emanzipationsprozess“, von „Herrschaft“ als Regression. Oder eine gute Problemlösung wird zu einem „rationalen Antwortgeschehen auf die bestehende Krise“.
Sind Normen der Vernunft zeitloser als Normen der Moral? Vorstellungen von Rationalität scheinen doch immer ein bisschen unsere Vorstellungen von Rationalität zu sein. Das findet zumindest die feministische Wissenschaftsphilosophie und entlarvt unsere Rationalität als patriarchal durchsetzt.
Ein Entzauberungsprozess
Mit der Lektüre von „Fortschritt und Regression“ durchläuft man – ganz unpassend zur Jahreszeit – einen Entzauberungsprozess: Fortschritt muss prozessual statt substanziell verstanden werden, der Weihnachtsmann ist erfunden statt echt.
Bin ich das kleine Kind, das mit dem Fuß aufstampft und trotzig behauptet: „Aber der Weihnachtsmann, es gibt ihn doch!“? Oder ist der Fortschrittsbegriff mehr wie der Weihnachtsmann als uns lieb ist? Wenn er nicht substanziell sein kann, dann gibt es ihn nicht.
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