Buch über Familientragödie: Von schwarzen Raben umschwärmt

Die Fotografin Bettina Flitner erzählt in ihrem autobiografischen Roman „Meine Schwester“ von den Suiziden in ihrer Familie.

Bettina Flitner und ihre Schwester blicken beide ernst in den Spiegel

Ausschnitt des Covers „Meine Schwester“: Bettina Flitner und ihre Schwester Susanne Foto: Bettina Flitner/Kiepenheuer & Witsch

Ein Suizid ist wie die Explosion einer Atombombe, sagte einmal ein Psychologe zu einem Freund von mir, dessen Vater sich das Leben genommen hatte. Was im direkten Umfeld des Toten nicht sofort zerstört wird, bleibt auf Jahre und Jahrzehnte kontaminiert und von der Tat belastet.

Umso mehr muss das gelten, wenn dieses Umfeld ohnehin schon familiär vorbelastet ist, etwa durch eine Neigung zu Depression. So ist es in der Familie von Bettina Flitner, die nach dem Freitod ihrer Schwester Susanne, fast auf den Tag genau 33 Jahre nach dem Suizid der Mutter, beschloss, die Geschichte dieser langsamen Zerstörung zu erzählen. So entstand ihr autofiktionaler Roman „Meine Schwester“.

Es sind die „schwarzen Raben“ der Depression, die in der Familie ihrer Mutter viele umflattern, den Onkel, die Tante, aber auch den Großvater, der oft am Fenster steht und ins Leere starrt. Bei den Großeltern in Celle verbringen die Schwestern viele Sommer, so auch Ende der 60er Jahre, als die Eltern bei einem Urlaub ohne Kinder noch einmal ihre Ehe retten wollen.

Bettina Flitner: „Meine Schwester“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 320 Seiten, 22 Euro

Es wird ihnen nicht gelingen, doch ebenso wenig werden sie die Kinder vor dem ehelichen Trümmerfeld bewahren. Die Illusion soll gewahrt bleiben, die Familie bleibt zusammen, doch die Eltern haben ständig wechselnde – und kaum verborgene – Affären.

Saat des Unglücks

Es sind die inneren Widersprüche von 1968 in ihrer zweifelhafteren Form, die in dieser Familie die Saat des Unglücks keimen lassen. Die soziale und sexuelle Befreiung bleibt auf halbem Wege stecken und wird auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Denn die müssen all die unausgesprochenen Konflikte und sonderbaren Szenen mit „Freunden der Familie“ ertragen, ohne sie verarbeiten zu können. Müssen ständig „Position beziehen“ und entfernen sich dadurch auch voneinander.

Die Celler Großeltern bilden dazu ein Gegengewicht. „Hier bei Ami und Api ist die Welt noch in Ordnung“, die Schwestern bilden eine „unzertrennliche Einheit“. Erst spät bemerken sie, dass unter all der Unbeschwertheit, die sie bei dem schrulligen, großbürgerlichen Ehepaar genießen, ein durchaus autoritärer Charakter ihres „Api“ schlummert. Wenn der etwa „morgens unsere Begrüßung nicht angemessen findet, spricht er den ganzen Tag nicht mit uns“. Und wenn die Kinder bei Tisch nicht ganz lieb fragen, bevor sie von der „Apiwurst“ essen, setzt es einen Wutanfall.

Schlimmer aber sind die Eltern des Vaters, der bekannte Reformpädagoge Wilhelm ­Flitner und die Ehrenvorsitzende des Kinderschutzbundes, ­Elisabeth Flitner. Deren freundliche Strenge lehrt auch die ­Mutter der Mädchen das Fürchten, und selbst ihr sonst so selbstbewusster Mann mutiert in Gegenwart seiner Eltern zum aufgescheuchten Huhn.

Es ist wohl kein Zufall, dass dieser scheinbare Freigeist später beim Nachhilfeunterricht für die strauchelnde Susanne ungeduldig Kopfnüsse verteilt und von seinen immerhin schöngeistigen Berufswünschen für die Töchter keine Abweichung erträgt.

Düster und komisch zugleich

Es ist das Wunder dieses Buchs, dass Bettina Flitner all das mit feiner Ironie erzählt und dem zunehmend düsteren Hintergrund stets strahlende Minia­turen und hinreißend komische Episoden entlockt. So das heitere Porträt einer Hannoveraner Waldorfschule, die vielen Urlaubsabenteuer der diversen Großfamilien oder ein halbes Jahr in New York mit Auftritten von Hannah Arendt und Kermit dem Frosch. Und hinter allem steht die Bewunderung für die eigentlich so lebensfrohe, starke große Schwester.

Doch die Rabenschwärme um die Mutter werden dichter. Am Tag der Abiturprüfungen der Töchter versucht sie sich zum ersten Mal das Leben zu nehmen. Zu Ende bringen wird sie es ein paar Jahre später. Auch Susanne wird 33 Jahre danach zwei Anläufe brauchen. Und doch wird es auch bei ihr niemandem gelingen, die ernsten Hilferufe von den täglichen Ängsten und Sorgen zu unterscheiden.

Bettina Flitner macht es sich nicht leicht, wenn sie die vielen Male schildert, wie sie – inzwischen gefragte Fotografin – gereizt auf ihre Schwester reagiert, die mit Ende 50 ihren Job als Verkäuferin verliert und ihre Angst vor dem Jobcenter mit echten Existenzängsten zu verwechseln scheint.

Oder wie sie den womöglich entscheidenden Anruf am Morgen des Todes verpasst und daraufhin den Tag über vergeblich versucht, ihre da schon tote Schwester zu erreichen. Diese Schilderung zieht sich in kleinen Episoden durch das ganze Buch. Wie übrigens auch die ruhende Präsenz von Flitners jahrzehntelanger Lebensgefährtin, der Publizistin Alice Schwarzer.

Am Ende steht die große Frage, „warum“ sie – Schwester wie Mutter – „es getan“ haben, offen. Es bleiben die Erinnerung – und die Erzählung.

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