Buch über Corona-Strategie: Schwedens einsamer Weg
Eine schwedischer Journalist versucht in seinem Buch die Coronastrategie des Landes zu erklären und eine Bilanz zu ziehen.
Vielleicht genau wegen der Erfahrungen mit „eisenharter“ Infektionsbekämpfung, lautet die These eines Sachbuchs des Journalisten Johan Anderberg über den „Weg, den Schweden in der Pandemie wählte“.
Der Umgang mit Aids, bei der man HIV-Infizierte wie Aussätzige behandelte, gilt mittlerweile als eines der dunkelsten Kapitel der Sozialpolitik des Landes. Und 2009 richtete die Panik um die für Menschen relativ harmlose Schweinegrippe aufgrund der Narkolepsie-Nebenwirkungen einer Massenimpfkampagne in Schweden mehr gesundheitliche Schäden an als das Virus.
Virologen und Epidemiologen mit dieser Erfahrung standen 2020 bei der staatlichen Gesundheitsbehörde dann vor der Aufgabe, eine Coronastrategie zu entwickeln. Laut Anderberg, der viele Interviews führte und umfangreich Dokumente auswertete, hätten sie sich schnell für das Modell entschieden, über das vor Corona breite Einigkeit in der epidemiologischen Wissenschaft bestanden habe: Der Infektion mit gezielten Maßnahmen zu begegnen, „von denen man auch wissen muss, dass sie funktionieren“. Nicht die Methode „Viel hilft viel“, sondern Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und der persönlichen Freiheit nur als Ultima Ratio.
Womit Schweden dann bald ziemlich alleine stand. Denn nahezu überall sei die Politik von einer Panik erfasst worden, deren Fundament „eine Mischung aus chinesischer Diktatur und einer schlampigen britischen Studie war“. Womit Anderberg den Rapport des „Imperial College“ meint, der im März 2020 für Großbritannien über eine halbe Million Coronatote binnen 3 Monaten vorhergesagt hatte.
Bunker- und Herdenmentalität
Unstreitig sei das Virus „enorm gefährlich, speziell für bestimmte Menschen“, betont Anderberg. Er verstehe Politiker, die im Frühjahr 2020 panisch reagierten: „Aber warum wurde die Lockdown-Politik dann nicht mehr hinterfragt?“ Seine Vermutung unter Bezug auf die sozialwissenschaftliche Diffusionstheorie: „Politiker schlittern oftmals in etwas hinein, nur um Handlungskraft zu beweisen.“ Dabei würden oft Strategien, die sich am lautesten Gehör verschafften, einfach ohne weitere Analyse übernommen. Vor allem, wenn Entscheidungen unter großer Unsicherheit getroffen werden müssten. Aufgrund einer „Bunker-“ und einer „Herdenmentalität“ bestehe die Gefahr, dass dieser Kurs nicht mehr hinterfragt werde.
Schweden sei von der „Herde“ – so auch der Titel seines Buchs – nur deswegen relativ wenig angesteckt worden, weil hier der gesetzliche Auftrag der Gesundheitsbehörde sowieso ein ganzheitlicher und nicht auf bloßen Gesundheitsschutz ausgerichteter sei und sich Stockholm auf die eigenen Experten verlassen habe. Fehleinschätzungen habe es natürlich gegeben. Aber die Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheit sei Schweden bislang recht gut gelungen. Komme die Zeit für eine Bilanz, könne das Land vielleicht eine ähnliche Rolle wie die „Kontrollgruppe“ bei Arzneimitteltests spielen: Also einen Hinweis liefern, ob man einer solchen Pandemie auch vorwiegend mit gezielten Empfehlungen begegnen und auf die Akzeptanz in der Bevölkerung statt auf einen erzwungenen Lockdown setzen könne.
Schwedens Zwischenbilanz sei gar nicht schlecht, konstatiert Anderberg: Die Übersterblichkeit liegt im europäischen Vergleich im unteren Drittel, die wirtschaftliche Entwicklung war 2020 mit einem BNP-Minus von 3,1 Prozent die drittbeste in der EU und für die meisten Schweden sei „2020 wie 2019 gewesen“.
Das Buch löste in Schweden ein breites Echo aus. Svenska Dagbladet lobt den Verfasser, dieses „heiße Eisen aufzugreifen“. Aftonbladet spricht von einem „nuancierten Bericht über eine merkwürdige Zeit“ und Expressen von einer „Pionierarbeit“. Eine TV-Serie auf Grundlage des Buchs und eine englische Übersetzung unter dem Titel „The Herd“ sind in Arbeit.
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