Buch über Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte

Vom Kampf für deutsches „Volkstum“ bis zur „Israel-Lobby“: Peter Longerichs große Studie über Judenhasser zeigt erschreckende Entwicklungslinien auf.

Protest gegen Judenhass

Protestkundgebung gegen Antisemitismus in Gelsenkirchen Foto: dpa

„Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt, es ist das Judenthum.“

Als der Philosoph Johann Gottlieb Fichte im Jahre 1793 diese Zeilen veröffentlichte, gab es den Begriff Antisemitismus noch nicht. Wohl aber war der Judenhass ein schon seit Jahrhunderten in Europa verbreitetes Vorurteil. Die Gesellschaft befand sich im Übergang vom Absolutismus zur Aufklärung. Es ist diese Epoche, mit der der Historiker Peter Longerich seine Studie über den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft einleitet, denn zu diesem Zeitpunkt wandelte sich die bis dato mit religiösen Differenzen begründete Judenfeindschaft zu etwas Neuem – eine Bewegung gegen die Juden als vorgeblich fremde Gruppe, Nation oder ethnisch-religiöse Vereinigung.

Es waren zwei miteinander verbundene Bewegungen, die die Ablehnung gegen Juden als Kollektiv anfeuerten: Zum einen die verspätet einsetzende Nationenbildung in Deutschland, die auf der Suche nach gemeinsamen Volksmerkmalen war, mit der sich eine Gruppen­identität manifestieren ließ, zum anderen die langsame Ablösung des Ständestaats hin zum Kapitalismus, der einerseits vielen, darunter den bis dahin exkludierten Juden, neue Chancen bot, andererseits aber angestammte Existenzmöglichkeiten infrage stellte – und damit den Ruf nach einem Sündenbock für all die Veränderungen auslöste.

Fichtes Einlassung reiht sich dabei in Äußerungen vieler Stimmen ein, die das Postulat eines Staatsvolks mit der Frage der Loyalität verbanden und zu dem Schluss kamen, dass den Juden mit ihren vorgeblich so seltsamen Bräuchen dazu die Voraussetzungen fehlten. Von dahin war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum modernen, gruppenbezogenen Judenhass.

Sie dienten, so konstatiert Longerich, den Vertretern der Moderne als Abziehbild der Abgrenzung. „Kein Volk, und selbst das uncultivirteste nicht, hat solche abscheuliche Grundsätze der Moralität, als die Juden“, zitiert der lange in London lehrende Historiker den Juristen Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer. Solcherlei Zuschreibungen wurden als unveränderlich, also weder durch Erziehung noch Konversion überwindbar dargestellt.

Die Logik des Judenhasses

Die Kapitel Longerichs zu den Anfängen des modernen Judenhasses zählen zu den spannendsten dieses Buchs, denn sie geben nicht nur einen detailreichen Einblick in die damalige Geisteswelt christlicher intellektueller Deutscher. Vor allem zeigen sie auf, mit welch scheinbarer Logik der Hass gegen die Juden begründet worden ist.

Eine jüdische Emanzipation passte nicht in die Geisteswelt der romantischen Nationalisten deutscher Zunge, die im Gegensatz zu den französischen Revolutionären dem Rationalismus ablehnend gegenüberstanden. Friedrich Ludwig Jahn verstieg sich etwa zu der Auffassung, Ehen mit „Undeutschen“ sollten einen Verlust der Bürgerrechte nach sich ziehen.

Im Jahre 1816 – und nicht etwa 1933 – erging sich der Reformer Fürchtegott Leberecht Christlieb in einem Artikel in Mordfantasien, als er über den Judenmord schwadronierte, „indem wir sie, etwa kreisweise, zusammentrieben, niederschössen und ersäuften – Alle, ohne Ausnahme, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Kranke und Gesunde“.

Peter Longerich: „Antisemitismus. Von der Aufklärung bis heute“. Siedler Verlag, München 2021, 640 S., 34 Euro

Nun käme Longerich als renommierter Historiker und NS-Forscher nicht in den Sinn, hier Analogien herzustellen, die es nicht gibt. Dennoch bleibt es auffällig, mit welcher Vehemenz schon zu Beginn des 19. Jahrhundert die Judenfeinde ihr Gedankengebäude auszuschmücken trachteten.

AntisemitInnen auf der Erfolgsspur

Wer in Longerichs Buch eine umfassende Analyse antisemitischer Vorurteilsstrukturen erwartet, kennt den Autor nicht. Der Historiker breitet vielmehr die Fakten der Geschichte aus und weiß sie zu gewichten. Herausgekommen ist so weniger, wie es der Titel verspricht, ein Werk über Antisemitismus als eine glänzende Studie über die Antisemiten und ihre Erfolgsspur in der deutschen Geschichte. Diesen Kräften gelingt es in der Tat innerhalb weniger Jahre, eine Bewegung zu initiieren und damit in der Bevölkerung eine Massenbasis zu erreichen. Wie konnte das geschehen?

Zu Beginn, vor der die Emanzipation vorantreibenden 1848er Revolution, mögen die „romantischen“ Antisemiten auch Revolutionäre gewesen sein, die gegen die bestehende Ordnung und Kleinstaaterei agitierten. Aber etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten sie zu den reaktionären Kräften, die das deutsche „Volkstum“ durch die hereinbrechende Emanzipation der Juden bedroht sahen, die Entwicklung aber durchaus im Rahmen der bestehenden Ordnung korrigiert sehen wollten.

Der „Gründerkrach“, die Wirtschaftskrise ab 1873, wurde für sie zum Erweckungserlebnis, identifizierten sie doch die Juden als Verursacher von Not und Elend. Damals und in den folgenden Jahrzehnten im Kaiserreich schuf die antisemitische Bewegung, vom Staat mehr gefördert als behindert, durch die Gründung von Verbänden und Parteien ihre Massenbasis. Damals auch entstand das Postulat von einer „Rasse“, die als „Staat im Staat“ das Land zu unterminieren drohe.

Die Judenhasser agitierten nicht länger gegen Angehörige einer Religionsgemeinschaft, sondern, so Longerich, gegen „ein abstraktes, von Juden beherrschtes System, den ‚Semitismus‘, eine sich raffinierten Methoden bedienende jüdische Vorherrschaft“. Und so wurde diese Mixtur aus Vorurteilen, Abstiegsängsten und Deutschtümelei zur Wissenschaft geadelt, bald darauf unterlegt von ­„Rassenhygiene“ und „Rassenanthropologie“, die an deutschen Universitäten gelehrt wurden. Derweil war die Emanzipation der Juden zwar vorangeschritten, aber auf staatlicher Ebene immer noch nicht vollendet – höchste Ämter in Militär und Verwaltung blieben der Minderheit verschlossen.

Erst treu zum Kaiser, dann gegen das „System“

Auch wenn bis 1919 nur wenige und in den entsprechenden Parteien organisierte erklärte Antisemiten in den Reichstag einzogen, entwickelte sich der Antisemitismus dennoch zu einer Volksseuche, wie Longerich auch anhand der evangelischen und katholischen Kirche nachweist, wobei Passagen des religiös begründeten Judenhasses wie die Lüge vom Ritualmord an Kindern umstandslos inkorporiert wurden.

Die Weimarer Republik beendete die Anlehnung der Antisemiten an die staatliche Ordnung. Die Demokratie galt ihnen als „System“, das es zu zerstören gelte. Mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg hatten die Antisemiten eine neue Begründung für ihren Judenhass gefunden: den „Dolchstoß“ von Juden und Linken, der hinter der Front die Niederlage verursacht habe. Allerdings waren sich die Judenfeinde ab 1919 keineswegs darin einig, wie die Ablösung des „Systems“ zu geschehen habe und was dem verhassten Staat folgen sollte.

Es entstand eine kaum zu übersehende Zahl an Vereinen, Organisationen und Parteien im rechtsradikalen Milieu, die Gewalt gegen Linke und Juden nahm brutalste Formen an. Kleinstparteien wie die NSDAP spielten zu Beginn von Weimar nur eine untergeordnete Rolle, wichtiger für die Propagierung des Antisemitismus war die starke rechtsradikale DNVP. Doch diese, den alten Vorstellungen des Kaiserreichs verbundene Partei, geriet ab Ende der 1920er Jahre zunehmend gegenüber den „revolutionären“ Vorstellungen der Führerpartei NSDAP ins Hintertreffen.

Antisemitismus, so schreibt Longerich, zählte zweifellos zum zentralen Element der Nazi-Ideologie. Dennoch setzte die Partei den Judenhass keineswegs immer in den Mittelpunkt ihrer Agitation. Eine Entwicklung begünstigte den Aufstieg der Nazis: das Bekenntnis zur „Volksgemeinschaft“, das weit über rechtsradikale Parteien hinausging und eine Gemeinschaft postulierte, aus der die Juden leicht ausgeschlossen werden konnten. Hinzu kam die angeblich so ungerechte Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte, wobei die Antisemiten einen besonderen Einfluss der Juden hinzudichteten.

Longerich präsentiert präzise Fakten und bringt diese in Zusammenhänge, selbstverständlich auch über die NS-Herrschaft und den Holocaust. Diese enorme Vielzahl an Informationen macht sein Buch nicht immer zu einer leicht konsumierbaren Lektüre. Aber es gelingt dem Autor, mehr als eben nur einen Überblick über die Entwicklung des Antisemitismus zu schaffen, in dem er Entwicklungslinien aufzeigt, die weit über die immer wiederkehrenden Hinweise hinausgehen. Der Massenmord unter den Nazis wird zum Kulminationspunkt einer eliminatorischen Bewegung, die in ihren Grundzügen schon viel früher etabliert war als im Jahr 1933.

Die Studie macht deutlich, wie ­flexi­bel Antisemiten auf Zeitumstände reagieren

Angesichts der jüngsten aufgeregten Debatte über eine Definition des Antisemitismus – Stichwort Israel-Hass – macht diese Studie deutlich, wie flexibel Antisemiten auf Zeitumstände reagieren und ihre Wahnvorstellungen immer wieder aktualisieren können. Dies gilt auch für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in der die Antisemiten – von einem kleinen Kreis von Neonazis abgesehen – angesichts der Tabuisierung des Antisemitismus ihren Hass in Formulierungen codiert haben, die ihre Feindschaft gegenüber den Juden zwar dem Eingeweihten deutlich machen, formal aber keinen Anlass für strafrechtliche Konsequenzen ergeben. Das gilt in der Bundesrepublik für Teile der Debatte über die Entschädigung ebenso wie für den vorgeblichen Antizionismus in der DDR.

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