Buch über „100 Objekte“ von Frauen: Die fantastischen Segelmacherinnen
Annabelle Hirsch hat eine „Geschichte der Frauen in 100 Objekten“ vorgelegt, die voller Erfinderinnengeist steckt: Ohne Frauen keine Zivilisation.
Was Annabelle Hirsch unbedingt in die nächste Auflage ihrer „Geschichte der Frauen in 100 Objekten“ aufnehmen sollte: „Partyvideo“. Und eine zweite Auflage sollte es gewiss geben. Denn „die Dinge“, die die 36-jährige Autorin in ihrer Neuerscheinung gleichen Titels betrachtet, hat sie klug und mit überraschendem Witz ausgesucht. „Die Dinge“ empfehlen sich wirklich von selbst einem großen Leser:innenkreis, so unterhaltsam, amüsant und lehrreich sie sind – und so eminent politisch.
Deshalb schreibt man unwillkürlich Annabelle Hirschs Liste fort, mit dem geleakten, vermeintlich skandalösen Partyvideo, das Sanna Marin, die 36-jährige finnische Ministerpräsidentin, zum Drogentest zwang. Ausgerechnet ihre Finanzministerin Annika Saarikko brachte ihn ins Spiel: Weil im Video zu sehen ist, wie Marin auf einer privaten Feier bei Freunden ausgelassen tanzt und singt.
Auch Geschlechtsgenossin Lena Skogberg von Hufvudstadsbladet ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, Marin zurechtzuweisen: „Können wir Ihnen vertrauen, wenn etwas passiert? Gehen Sie um fünf Uhr früh nach zwei feuchtfröhlichen Partynächten mit den Informationen, die Sie über die nationale Sicherheit haben, sorgfältig um?“
Fächer aus Neuseeland
Würde Skogberg vielleicht die „Ballkarte als Fächer“ helfen? Das Relikt aus den 1950ern, als Debütantinnenbälle noch in Blüte standen? Statt die Namen der Herren zu vermerken, mit denen die junge Frau tanzte, könnten es ja jetzt die Namen der Drinks sein, die sie kippte. Auf dem Fächer aus Neuseeland übrigens, den Hirsch gefunden hat, steht lustigerweise zu jedem Tanz statt des erwartbar männlichen ein weiblicher Namen.
Annabelle Hirsch: „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“. Kein & Aber, Zürich 2022, 416 Seiten, 32 Euro
Der Fächer ist die Eintrittskarte für einen Ball im Mai 1956, wie sein Foto zeigt. Den Debütantinnenball muss man sich laut Annabelle Hirsch wie „getanztes Speed-Dating“ vorstellen. Schön war das nicht. Aber als das Tanzfest im 18. Jahrhundert in England erfunden wurde, ging es tatsächlich nur darum, heiratsfähige junge Frauen der Saison, deren Ablaufdatum bald schon dräute, schnellstmöglich an den Mann zu bringen.
Am Beginn der Zivilisation
Immerhin, das erste Objekt, ein auf 30.000 Jahre vor Christus datierter „verheilter Oberschenkelknochen“, erzählt eine erfreulichere Geschichte von und für Frauen. Denn dieser Gegenstand, ein Knochenfund, belegt, dass ein Mensch vor Jahrtausenden mit einem gebrochenen Oberschenkelknochen überleben konnte: das erste Anzeichen unserer Zivilisation.
So jedenfalls antwortete US-Anthropologin Margret Mead auf die Frage eines Studenten nach eben diesem ersten Zeichen. „We are at our best when we serve others“, meinte sie. Dass wir uns um andere kümmern, hat uns als Spezies stark gemacht, und die These ist heute, dass es die Großmütter waren, die in diesen Zeiten die Kinder aufzogen und den Verletzten betreuten, bis der Knochen wieder verheilt war.
Vom Knochenfund geht es zur Höhlenmalerei 20.000 Jahre vor Christus und von dort zur Statue der Hatschepsut (1479–1458 v. Chr.), der Ägypterin, die anders als eine Griechin dieser Zeit, selbstverständlich singen und tanzen und stellvertretend regieren konnte – und die, diese Chance ergreifend, sich dreist zum Pharao ernannte: „Die Geschichte der Frauen in 100 Objekten“ ist also chronologisch angelegt.
Das Bild des jeweiligen Objekts – ob Daumenschraube, venezianische Stelzenschuhe, Bidet oder Weltfrauentag-Anstecker und Tupperdose – findet sich durchgängig auf der linken Buchseite, während der dazu gehörige Text stets die nachfolgenden drei Seiten einnimmt. Das ist lesefreundlich, knapp bemessen, doch Platz genug für die grundlegenden Fakten und deren stets aufschlussreiche Kontextualisierung und Interpretation.
Schatzkammer der Dinge
Niemand, das ist klar, wird den Band entlang der Abfolge von eins bis hundert lesen. In diese Schatzkammer wundersam beziehungsreicher Objekte wird ad libitum eingetaucht. Und deshalb möchte man nachgerade ein Spiel daraus machen, sich den Charakter der Leserin oder des Lesers über die zehn Dinge zu erklären, die sie sich für ihre Lektüre zuerst herauspicken. An sich versammelt der Band Gegenstände, die vom Alltag der Frauen erzählen, Objekte also, die das Gegenteil von Monumenten sind.
Mein zweites Ding nach dem Knochen war, zugegeben, ein weiß Gott monumentales Kunstwerk: der Teppich von Bayeux aus dem 11. Jahrhundert.
Fast 70 Meter lang und einen halben Meter hoch zeigt er 623 Menschen, 202 Pferde und 560 andere Tiere und bietet einen großartigen Einblick in den Alltag, in Architektur und Kleidung, aber natürlich auch die Kampftechniken der Zeit. Wer hat dieses Wunderwerk geschaffen? Die naheliegendere Option als die bislang favorisierten männlichen Stick-Ateliers, wird erst in den letzten Jahren in Betracht gezogen: Ordensschwestern, die im England dieser Zeit, als der Teppich angefertigt wurde, berühmt waren für ihre herausragende Stickkunst.
Zum besonderen Vergnügen wird der Text freilich durch den Rekurs auf die Frauen der Wikinger, die die Segel der berühmten Boote nähten, was länger dauerte als der Bau der Schiffskörper. Ohne diese fantastischen Segelmacherinnen wären die legendären maritimen Raubzüge der Skandinavier nicht möglich gewesen.
So viel zur harm- und damit bedeutungslosen, weil als Frauenarbeit bekannten Textilarbeit. Ja, auch das sind „Die Dinge“: eine lässige, nonchalante Streitschrift für eine Geschichte des Westens, die die Mitwirkung der Frauen in ihren vielfältigen, aktiven Rollen am Weltenlauf anerkennt.
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