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Brutale Adventskalender und PlätzeDie Ausweitung der Fußgängerzone

Die Kolumnistin gruselt sich gern, aber mit schlechtem Gewissen. Auch städtisches Elend und elende Stadtplanung setzen ihr zu. Einkaufen hilft nicht.

Alle Jahre wieder schwingt er sein Hackebeil: Hannovers beliebtester Prominenter Foto: Holger Hollemann/agitares/dpa

A ls ich vorübergehend nicht in Hannover wohnte, hat mir meine Mama ungefähr um diese Zeit immer den Hannoverschen Adventskalender gekauft. Der hat vor Jahren einmal für Diskussionen gesorgt, weil darauf der Serienmörder Fritz Haarmann als Comicfigur zu sehen ist.

Das ist natürlich moralisch höchst fragwürdig, brutale Sexualmorde an Jungs und jungen Männern mal eben so zum unterhaltsamen Detail zu machen. Das machen wir doch sonst eher mit weiblichen Opfern. Jedenfalls hörte man das in letzter Zeit öfter in der Kritik an all diesen True-Crime-Formaten.

Marketing-technisch funktio­niert das aber hervorragend und weil Hannover ja auch sonst nicht so viele Prominente hat, druckt man Haarmann jedes Jahr wieder auf den Kalender. Aufmerksamkeitsökonomie versteht man hier.

Wobei ich als Krimifan ja auch sagen muss: Ich glaube, unser Gehirn unterscheidet einfach nicht zwischen wahrer Geschichte und fiktivem Tatort. Es ist immer der gleiche wohlige Grusel, bis du selbst betroffen bist oder jemand den du liebst – und dann erträgst du auch beides nicht mehr.

Aber möglicherweise bin ich auch einfach total stumpf oder nicht hinreichend sensibilisiert. Erst seit Fatih Akin in einem Interview über seinen Film „Der Goldene Handschuh“ sagte, er habe zeigen wollen, wie traurig, widerlich und erbärmlich Gewalt gegen Frauen ist (und bei Gott das hat er getan), ist mir aufgegangen, wie oft ich mir schon Gewaltszenen angesehen habe, die eigentlich als Wichsvorlage inszeniert sind.

Haarmanns Gefängnis ist heute eine städtische Problemzone

Etwas, was ich auch erst kürzlich gelernt habe, ist, dass das Gefängnis, in dem Haarmann verhört und hingerichtet wurde, direkt hinter dem Bahnhof stand, dort, wo jetzt der Raschplatz und der Pavillon sind. Auf einer der hohen Backsteinmauern des königlichen Zellengefängnisses wuchs ein „Hoffnungsbirke“ genannter Baum, über den Theodor Lessing schwurbelig-sentimentales Zeug schreibt, während er ansonsten den Polizeiskandal, der diese Haarmann-Geschichte umgibt, sauber seziert.

Ich weiß nicht genau, ob der Weißekreuzplatz direkt daneben auch noch zu dem alten Gefängnisterrain gehörte, es würde aber einiges erklären. Das ist einer dieser Plätze, die einen an der Zurechnungsfähigkeit von Stadtplanern zweifeln lassen. Die begründen den sicher irgendwie mit Sichtachsen-bla-fasel.

Es ist aber einfach eine Grünfläche, die sich eher nach Loch als nach Platz anfühlt. Sie ist so angelegt, wie man früher mal Schulhöfe und Kindergarten-Freilaufgehege gemacht hat: Eckig, flach und übersichtlich, damit das Aufsichtspersonal nicht so viel Mühe hat. Natürlich sitzen die wenigsten Menschen gerne auf einem rasenüberzogenen Präsentierteller, deshalb sitzen und liegen dort nur noch Leute, deren Probleme erheblich größer sind als so ein diffuses Unbehagen.

In der Pandemie hat sich die Masse der hier trinkenden oder Substanzen konsumierenden Elenden und Gestrandeten deutlich vergrößert, mittlerweile wird man selbst bei der Nutzung der Außengastronomie am Tisch gelegentlich angebettelt. Fühlt sich an wie Urlaub in einem Entwicklungsland, nur das Wetter ist schlechter.

Als würde alles gut, wenn bloß die Autos weg wären

Ich habe ja prinzipiell eine hohe Toleranz, was Lärm und Schmutz und Chaos angeht – das erleichtert mir das Leben mit meinen Kindern kolossal, aber hier wird mir langsam wirklich mulmig. Man kann ja Empathie auch nicht beliebig weit runterregeln, obwohl ich das hier jetzt versuche.

Die Stadt ist so rat- und hilflos wie alle anderen, irgendwas mit Sozialarbeit, Ordnungsdienst, Beratungsstellen verlagern, murmelt man. Gleichzeitig wird das Areal mit verschiedensten Stoßrichtungen „überplant“, wie der Fachmann sagt. Von einem Radschnellweg war schon die Rede, und von einer Ausweitung der Fußgängerzone.

Das scheint überhaupt die Antwort auf alle Fragen derzeit zu sein, vor allem bei den Grünen. Mehr Fußgängerzone! Vor dem Bahnhof, hinter dem Bahnhof, rund um die Marktkirche. Als würde alles gut, wenn bloß die Autos weg wären.

Wie das mit den schrumpfenden Handelsflächen und der ohnehin schon tristen Einkaufstraßenrealität der vorhanden Fußgängerzone zusammengeht, ist mir ein Rätsel. Aber wahrscheinlich verstehe ich Einkaufsachsen genauso wenig wie Sichtachsen.

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Nadine Conti
Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020
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