Bruder und Produzent von Billie Eilish: All die bunten Bonbons
Finneas, der Bruder und Produzent von US-Überpopstar Billie Eilish, hat sein Debütalbum veröffentlicht. Was taugt seine Musik?
Es ist ein alter Hut, dass alles irgendwann wiederkommt. Auch die Dinge, die man nicht vermisst hat. Bei ihrer Rückkehr nimmt man diese dann oft anders wahr, wohlwollender, durch die Brille der Nostalgie. Das war so, als vor etwa vier Jahren das Revival der 1990er Jahre auf dicken Buffalos-Kreppsohlen angedonnert kam. Gewöhnt hat man sich an dessen Ausformungen inzwischen, untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Trendkarussell längst weitergedreht hat.
Wenn daher nun im Herbst 2021 der 24-jährige US-Künstler Finneas in der dritten Singleauskopplung seines Albums „Optimist“ davon singt, er würde manchmal an die 1990er denken, so kommt das nicht nur wenig überraschend, sondern auch schon reichlich spät.
Um die Mode oder die Musik jener Zeit geht es ihm dabei gar nicht primär, auch wenn Finneas im Musikvideo ein Regenschirmtänzchen veranstaltet, als wollte er das Intro der TV-Sitcom „Friends“ reinszenieren. Sein Anliegen ist ernster. Finneas besingt seine Sehnsucht nach der Zeit vor dem Siegeszug des Internet, er warnt vor den Gefahren von Onlinestalking und anderen unguten Entwicklungen im Zusammenhang digitaler Medien.
„All the time I should’ve been so happy I was here / Wasting it on worrying just made it disappear / Now my head feels so heavy / I’m left holding up the levee.“ Leg doch einfach mal das Telefon weg, würde man ihm da gerne zuraunen, wenn sich das nicht noch blöder anhören würde.
Finneas: „Optimist“ (OYOY/Interscope Records/Universal)
„The 90s“ ist der offensichtlichste Ohrwurm auf „Optimist“. Den Song stellvertretend für das ganze Album herauszugreifen ergibt Sinn und auch wieder nicht. Eine klare Linie gibt es darauf nämlich nicht, aber Kippmomente ohne Ende. Und die hat „The 90s“ auch. Es beginnt als fröhlich vor sich hin dudelnder Popsong, dann gerät der Autotune-Regler außer Kontrolle und schließlich wird noch die große Kirmes-EDM-Maschine angeschmissen. Es ist von allem etwas viel.
Im positiven Sinne viel kann man eigentlich auch von ihm erwarten. Finneas Baird O’Connell ist nicht irgendwer, sondern der große Bruder des Überpopstars Billie Eilish, ihr Begleiter, Komponist und Produzent, ein Wunderkind wie sie. Mit 12 Jahren begann Finneas eigene Lieder zu komponieren und diese Eigenkompositionen aufzunehmen, mit 14 war er erstmals in einem Hollywoodfilm zu sehen – schauspielern kann er nämlich auch, was er mittlerweile zugunsten der Musik aber wieder vernachlässigt.
„Ocean Eyes“, der Song, den Eilish 2015 auf Soundcloud veröffentlichte, war von ihm im Kinderzimmer komponiert und produziert worden. Es folgten zahlreiche weitere. Finneas wurde bei den Grammy Awards bislang achtmal ausgezeichnet. Neben Eilish arbeitete er als Produzent unter anderem mit Selena Gomez und Camila Cabello zusammen. Seine Solomusik lief lange eher nebenher. 2019 veröffentlichte er seine Debüt-EP „Blood Harmony“, „Optimist“ ist sein erstes Album.
Und mit dem will sich Finneas offensichtlich beweisen, musikalisch wie stimmlich, und noch dazu zeigen, dass er einer ist, der sich Gedanken macht – nicht nur über die 1990er Jahre.
Der betrübliche Zustand der Welt
Finneas bedrückt, ganz wokes Kind seiner Zeit, so einiges: die Klimakrise, die Schere zwischen Arm und Reich, Kapitalismus, Krieg, überhaupt der betrübliche Zustand der Welt, seine Privilegien als weißer Mann, Cancel Culture, Vergänglichkeit, ein bisschen Pandemiefrust ist auch dabei. Er sieht alles sehr kritisch, auch sich selbst, seinen Ruhm, sein Geld, sein „douche bag car“. Finneas fährt Tesla.
So löblich das sein mag, so platt sind leider oft die Formulierungen, die er dafür findet („How can you sing about love when the kids are all dying?“ – ernsthaft?) und so wenig innovativ die Musik. Finneas klingt am besten auf den langsamen Stücken, den Klavierballaden, verirrt sich aber zu oft zwischen Stadionrock und Mainstreampop. Heraus sticht da gerade mal ein instrumentales Zwischenstück für die Pitbull-Hündin Peaches.
„Optimist“ ist ein Album für Samstagnachmittage im Einkaufszentrum und diese Radiosender mit dem besten Mix von damals und heute. All die lustig bunten Popbonbons, die er in die Luft wirft, schmecken am Ende doch fade. „Something is missing“, haucht Finneas in der Ballade „Love is pain“. Ja, es fehlt etwas. Der Edge. Das Besondere. Irgendwas. Das müsste er doch besser können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen