Briefe aus dem Konzentrationslager: „Bin gesund und munter“
In „Spuren des Terrors“ untersucht Heinz Wewer Briefe aus Konzentrationslagern. Er gibt damit den Opfern ihre Geschichte und Individualität zurück.
„Nun ist der erste Einstand getan, der wie aller Anfang schwer ist.“ Auf der Adresszeile des ersten Briefs, den der Geistliche Paul Schneider seiner Frau Gretel kurz nach seinem „Einstand“ geschickt hat, ist nicht etwa seine neue Pfarrstelle vermerkt, sondern „Konzentrationslager Buchenwald“.
Mithilfe dieses und über 280 anderer Dokumente aus dem Lagersystem der Nationalsozialisten, die er in dem Buch „Spuren des Terrors“ versammelt, gelingt dem Historiker Heinz Wewer eine Chronik der Konzentrationslager, die postalische Zeugnisse der Opfer in den Mittelpunkt stellt. Mit Briefen aus insgesamt 31 Konzentrations- und 44 Außenlagern erklärt Wewer die Entwicklung des Lagersystems von den „frühen“ provisorischen Konzentrationslagern für politische Gegner bis zu den Orten der Massenvernichtung.
Die Methodik, mit der er sich diesem Thema widmet, ist dem Historiker nicht neu. Bereits in zwei anderen Werken, „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“ und „Postalische Zeugnisse zur deutschen Besatzungsherrschaft im Protektorat Böhmen und Mähren“, rekonstruierte Wewer Kapitel der NS-Zeit mithilfe von Briefquellen.
Dabei erhebt das Buch „Spuren des Terrors“ keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Explizit ausgeklammert werden die Vernichtungslager: Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka und damit große Teile der Schoah und des Porajmos, des Genozids an den Sinti und Roma. Diesem Teil der NS-Geschichte widmet Heinz Wewer ein eigenes Buch mit dem Namen „Spuren der Vernichtung“, das 2021 erscheinen soll.
Dokumente von Erich Mühsam und Carl von Ossietzky
Eine vollständige Geschichte der Konzentrationslager allein anhand von Briefquellen zu erzählen war aufgrund der Zensur nicht möglich. Um das Bild des Lagersystems aus der Innenperspektive zu vervollständigen, ergänzt Wewer seine Erkenntnisse aus postalischen Quellen um Zeitzeugenberichte. NS-Quellen verwendet er in der Regel nur, um die Bürokratie des Terrors zu erklären, in der die Konzentrationslager organisiert waren.
In „Spuren des Terrors“ stehen vor allem Einzelschicksale im Fokus. Neben den letzten Lebenszeichen von berühmten Oppositionellen wie Erich Mühsam oder Carl von Ossietzky druckt Heinz Wewer vor allem die intime Korrespondenz nicht berühmter Opfer mit ihren Verwandten und Geliebten ab. Dabei rekonstruiert er auch ihr Leben vor und – sofern sie überlebt haben – nach der Lagerhaft und gibt ihnen damit das zurück, was ihnen die Konzentrationslager nehmen sollten: ihre eigene Geschichte und Individualität.
Gleichzeitig erklärt Wewer anhand des Privilegs des Postverkehrs, wie Konzentrationslager nach ihrem eigenen Ständesystem funktionierten, das im Sinne der NS-Ideologie nach Kategorien der Herkunft und „Rassezugehörigkeit“ organisiert war. So war deutschen Opfern Postverkehr in der Regel gestattet, während Russen sowie Sinti und Roma und Juden seit Kriegsbeginn keinen Kontakt zur Außenwelt haben durften.
Briefverkehr erhielt Hoffnung und Überlebenswillen
Postverkehr wurde ihnen nur dann gestattet, wenn er im Sinne der Nationalsozialisten war. Zum Beispiel im Rahmen der sogenannten Briefaktionen, in denen Juden unmittelbar vor ihrer Ermordung gezwungen wurden, ihren Verwandten zu schreiben. Mit so zynischen Passagen wie „Bin gesund und munter“ sollten Judenräte beruhigt und nebenbei noch nicht verhaftete Juden ausfindig gemacht werden.
Spuren des Terrors: Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager
Hentrich&Hentrich
320 Seiten, Hardcover
39,00 €
ISBN: 978-3-95565-350-7
Briefkontakt war ihnen auch dann erlaubt, wenn sie besonderen Wert für die SS hatten. Das Postprivileg, das den Sekretärinnen von Auschwitz oder den Zwangsarbeitern des Fälscherwerks im KZ Sachsenhausen eingeräumt wurde, war aber keine Gefälligkeit für wertvolle Sonderarbeit. Es sollte lediglich ihr Überleben sichern. Denn das beweist „Spuren des Terrors“ eindrücklich: Briefe waren in den Konzentrationslagern der einzige Kontakt nach außen. Sie erhielten die Hoffnung, Geliebte wiederzusehen, und damit auch den Willen, das Lagersystem zu überleben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!