Brics-Vorgänger Bündnisfreie Staaten: Die Welt neu sortiert
Die Bündnisfreien Staaten riefen in den 1970er Jahren nach einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“. Sie waren die Vorgänger der Brics.
Nur wenige Tage ist es her, dass die Staatschefs der Brics-Länder während ihres Gipfels in Südafrika erklärten, dass sie auf eine neue, nicht mehr westlich dominierte Weltordnung hinarbeiten wollen. Vor exakt 50 Jahren hatte die Gruppe der Bündnisfreien Staaten, die von Kommentator:innen heute gerne mit den Brics verglichen wird, schon einmal zur Schaffung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ aufgerufen und damit eine der zentralen globalen Debatten der 1970er Jahre in Gang gesetzt.
In den Folgejahren verabschiedeten die Vereinten Nationen nicht nur ein Aktionsprogramm zur Einführung dieser neuen Ordnung. Auch schienen sich die ökonomischen Machtverhältnisse als Folge der Ölkrise zugunsten des Globalen Südens zu verschieben. Worum ging es in dieser heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Auseinandersetzung? Warum scheiterte die Initiative schließlich? Und was bedeutet das für die Brics-Staaten?
Der Autor lehrt als Historiker an der Uni Rostock. Von ihm erschien 2022 bei De Gruyter „Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung. Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen“.
Die Bündnisfreien waren ein Produkt des Kalten Krieges. Initiiert durch Jugoslawien, Ägypten und Indien hatten sich 1961 die Staats- und Regierungschefs von zunächst 25 Staaten in Belgrad zu ihrem ersten Gipfel getroffen. Sie wollten weder zum „Westen“ noch zum Sowjetblock gehören.
Die Blockfreien waren aber auch ein Resultat der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn ihre Mitglieder rekrutierten sich ganz überwiegend aus den jüngst unabhängig gewordenen Staaten Asiens und Afrikas, und der Kampf für die Unabhängigkeit der noch kolonial beherrschten Regionen der Welt war eins ihrer zentralen Themen.
Eine „neokoloniale“ Welt
Dieses Ziel war Anfang der 1970er Jahre weitgehend erreicht. Doch zeichnete sich nun immer deutlicher ab, dass mit der politischen Unabhängigkeit nicht automatisch wirtschaftliche Entwicklung einhergehen würde. Hatte Ghanas erster Präsident, Kwame Nkrumah, 1957, im Jahr der Unabhängigkeit seines Landes, noch prophezeit, dass der ökonomische Aufschwung der politischen Dekolonisierung automatisch folgen werde, gab er sich einige Jahre später desillusioniert.
Nun argumentierte er, man lebe in einer „neokolonialen“ Welt, in der die ehemaligen Kolonien wirtschaftlich noch immer von den westlichen Industriestaaten abhängig seien. Andere ergänzten, dass die Spielregeln der globalen Wirtschaft im Westen geschrieben würden und der Globale Süden bei wichtigen Entscheidungen kaum mitreden könne.
Auch zahlten die Industriestaaten viel zu geringe Preise für die Rohstoffe, die sie aus den ehemaligen Kolonien importierten. So sei Entwicklung in Ländern wie Ghana, das vor allem Kakao exportierte, nicht möglich. Der politischen müsse daher eine ökonomische Dekolonisierung folgen.
Radikale Veränderungen gefordert
Um diese ökonomische Dekolonisierung ging es den Bündnisfreien, als sie sich vor genau 50 Jahren, im September 1973, zu ihrem vierten Gipfel in Algiers zusammenfanden. Delegationen aus 76 Ländern nahmen an der gigantischen Konferenz teil, die der algerische Präsident Houari Boumedienne im Club de Pines vor den Toren der Hauptstadt eröffnete.
In seiner Rede geißelte der Präsident die „Plünderung der nationalen Ressourcen der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder“, die dafür sorge, dass der Abstand zwischen armen und reichen Staaten stetig weiter anwachse. Es gelte nun, radikale Veränderungen durchzusetzen.
Dazu zählten neben den üblichen Forderungen wie der Aufstockung von Hilfszahlungen, der Vereinfachung von Technologietransfers und der Öffnung westlicher Märkte für Exporte aus dem Süden auch konfrontative Maßnahmen: vorneweg die Enteignung von westlichen Unternehmen und die Gründung von Rohstoffkartellen nach dem Vorbild der Opec. Diese Schritte sollten dazu dienen, eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ zu schaffen, womit ein neues Schlagwort in die Welt gesetzt war, das die Debatten in den kommenden Jahren prägen sollte.
Produktion von Erdöl reduzieren
Dass diese Forderungen in den USA, Japan und Westeuropa nicht einfach ignoriert wurden, wie es in den Jahren zuvor die Regel war, hing entscheidend mit der Opec zusammen. Gut einen Monat nach dem Algiersgipfel, im Oktober 1973, setzte die erste Ölkrise ein. Im Zuge des Jom-Kippur-Kriegs, der mit einem Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel begann, entschieden sich die arabischen Ölminister, ein Embargo gegen die Vereinigten Staaten und die Niederlande zu verhängen und die Produktion von Erdöl insgesamt zu reduzieren.
Parallel beschloss die Opec, die 1960 gegründete Vereinigung der großen Ölproduzenten des Globalen Südens, den Ölpreis in zwei Schritten von etwa 3 Dollar auf 12 Dollar pro Fass anzuheben. Diese Entscheidungen sandten Schockwellen durch die westlichen Industriestaaten, die sich schlagartig ihrer ökonomischen Verwundbarkeit bewusst wurden.
Diesen historischen Moment nutzte Boumedienne aus: Er schrieb UN-Generalsekretär Kurt Waldheim und forderte ihn auf, eine Sondersitzung der Vereinten Nationen einzuberufen, um über die „internationalen Wirtschaftsbeziehungen“ zu beraten und ein neues System einzuführen, das auf der Gleichheit und den gemeinsamen Interessen aller Staaten basiere.
Im April 1974 fand die Sondergeneralversammlung statt, die nach drei Wochen mit der Verabschiedung einer Deklaration zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung und einem zugehörigen Aktionsprogramm abschloss. Diese waren ohne Gegenstimmen angenommen worden – und das, obwohl die Dokumente aus westlicher Sicht zum Teil inakzeptable Forderungen enthielten, weil sie die Substanz der marktwirtschaftlichen Weltwirtschaftsordnung angriffen. Es war die Angst vor dem erneuten Einsatz der „Ölwaffe“, die die westlichen Delegationen vor einer offenen Ablehnung zurückschrecken ließ.
Preiserhöhungen der Opec begrüßt
Auch stellten sich die Staaten der Dritten Welt, wie es damals hieß, geschlossen hinter die Initiative und verhielten sich damit ganz anders, als es westliche Diplomaten im Vorfeld erwartet hatten.
In Washington, Paris, London und auch in Bonn war man davon ausgegangen, dass die vervierfachten Ölpreise, die die Wirtschaft von Indien, Sambia oder Brasilien stark belasteten, einen Keil zwischen die Opec-Staaten und die übrigen Öl-armen postkolonialen Nationen treiben würde. Doch während der Sondersitzung in New York forderten diese gemeinsam die Einführung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, wobei sie die Preiserhöhungen der Opec als ersten Schritt in die richtige Richtung begrüßten.
Schwund der Solidarität
In den folgenden Jahren sollte die Neue Weltwirtschaftsordnung eines der zentralen Themen auf der internationalen Agenda sein, über das in zahlreichen UN-Foren, auf Spezialkonferenzen, aber auch im Rahmen der 1975 neu geschaffenen G7 diskutiert wurde. Durchgreifende Reformen aber blieben aus. Das lag auch daran, dass die Beschlüsse der UN-Sondergeneralversammlung nicht bindend waren.
Als dann Anfang der 1980er Jahre immer deutlicher wurde, wie sehr die Ölpreissprünge die Ökonomien vieler Staaten im Globalen Süden belastet hatten, schwand die Solidarität innerhalb der sogenannten Dritten Welt. Gleichzeitig löste sich die Ölmacht der Opec in Luft auf, weil die Nachfrage nach ihrem Exportgut einbrach.
Damit fehlten die Grundvoraussetzungen, um den Westen weiterhin an den Verhandlungstisch zu zwingen, und die Neue Weltwirtschaftsordnung geriet bald in Vergessenheit. Stattdessen setzte sich durch, was der Historiker Mark Mazower als „echte Neue Weltwirtschaftsordnung“ bezeichnet – die Ära der neoliberalen Globalisierung.
Es war in diesem Umfeld, in dem der Aufstieg von Indien und vor allem China begann, der die Grundlage für die erneute Herausforderung der westlich dominierten globalen Ordnung durch die Brics-Staaten ist. Mit der Betonung der Solidarität des Globalen Südens knüpft die Gruppe, die sich 2024 unter anderem um Saudi-Arabien, Äthiopien und Argentinien erweitern wird, an die Rhetorik der 1970er Jahre an.
Was die politische und ökonomische Machtbasis angeht, verfügt Brics aber – trotz der weit geringeren Mitgliederzahl – über ganz andere Ressourcen als die damaligen Bündnisfreien, deren Durchsetzungsfähigkeit am Öl hing. Ihre Herausforderung wird sich, sofern die wachsende Gruppe sich auf gemeinsame Ziele einigen kann, daher als weit größer erweisen. Denn allein Chinas Anteil an der globalen Wirtschaft ist heute größer als der aller Bündnisfreien im Jahr 1973.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands