Brexit-Folgen in Großbritannien: Deutsche bangen um ihre Zukunft
Nicht nur für Briten ist das Hin und Her beim Brexit belastend. Viele Deutsche in Großbritannien sind besorgt – auch über Fremdenfeindlichkeit.
Als sie Horst Seehofer mitten in der Affäre um Verfassungsschutzpräsident Maaßen und auf dem Höhepunkt der bayerischen Landtagswahlen sagen hörte, die Migration sei die Mutter aller Probleme, reichte es Michaela Aumüller.
„Mir war klar, dass ich mich jetzt zu Wort melden muss“, sagt sie. Seit Kurzem lebt Michaela Aumüller, Künstlerin, 53 Jahre alt, wieder in Deutschland. 2011 war sie zu ihrem Partner nach Cornwall gezogen, war eine von etwa 300.000 deutschen EU-Bürgern in Großbritannien. Den Rechtsruck im Vorfeld der Referendumskampagne 2016 beobachtete sie mit Unmut.
In der vergangenen Woche hat sie nun im Namen von mehr als 900 anderen rückkehrgeneigten Deutschen des Facebookforums „Deutsche Rückkehrer aus Großbritannien“ einen Brief an sechs Bundesminister, diverse Landes- und Lokalpolitiker verschickt. Dafür hat sie Sätze wie diesen formuliert: „In Großbritannien haben wir mit eigenen Augen gesehen, wie es aussieht und sich anfühlt, wenn rechtes Gedankengut hoffähig wird. Wir waren EU-Bürger, die über Nacht zu ‚Immigrants‘ wurden. Von gleichberechtigt zu Bürgern zweiter oder dritter Klasse. Von ‚us‘ zu ‚them‘. (…) Und wir sehen mit großer Sorge, was auch in unserem Land passiert.“
Viele im Forum schauen regelmäßig die „Tagesschau“, lesen deutsche Zeitungen und Nachrichten und beobachten argwöhnisch den Erfolg der AfD. Ihre größte Sorge ist, jetzt dort die Zelte abzubrechen, nur um in Deutschland vom Regen in die Traufe zu kommen. Der Tenor im Forum ist: Trotzdem zurückgehen. Aber sich künftig politisch einmischen. Der offene Brief soll ein gemeinsamer Anfang sein.
„Grundsicherheit verloren“
Michaela Aumüller wurde in Großbritannien wegen ihres Akzents im Laden nicht bedient, mehrere Male angepöbelt, weil sie „ja nicht von hier“ sei, ihre Deutsch sprechenden Freunde wurden in einem Toilettengebäude an der Autobahn bedrängt und festgehalten. „Ich habe meine Grundsicherheit verloren“, sagt sie, „für uns war schnell klar, dass wir uns mit der Entwicklung nicht identifizieren können, dass wir Großbritannien verlassen müssen.“
Erfahrungen wie diese teilt sie mit den Forumsmitgliedern. Das Profilbild des Forums ist eine Nahaufnahme der Quadriga des Brandenburger Tors, die Fragen, die hier diskutiert werden, sind zum Teil profane Probleme: Wie bringt man eine Katze über den Ärmelkanal? In welchen deutschen Supermärkten kriegt man Cheddar? Wie schwierig ist ein deutscher B1-Test für den britischen Partner?
Familie
Aber den Mitgliedern geht es um weit mehr als das, nämlich darum, verstanden zu werden. Der Moment, in dem Antonia Ruppel die ersten Posts las, war wie das Gefühl, „wenn man unter rasenden Kopfschmerzen leidet und endlich die Tablette wirkt“. Antonia Ruppel ist 39 Jahre alt, Expertin für Alte Sprachen und lebt ihr gesamtes Erwachsenenleben im englischsprachigen Ausland, elf Jahre davon in Großbritannien. Sie wollte zurück nach Deutschland, saß schon auf gepackten Koffern, als das Angebot für ihren Traumjob, eine Forschungsstelle für Sanskrit an der Uni Oxford, ins Haus flatterte. Sie sagte zu, ist aber immer noch im Forum aktiv: „Das ungute Gefühl bleibt“, sagt sie. „Ich liebe mein akademisches Umfeld, Freunde zu haben, die sich gegenseitig unterstützen, ist ein großes Glück. Aber die Stimmung außerhalb dessen empfinde ich zunehmend als unangenehm.“
Viele der Rückkehrer leben schon lange, manche 30, 40 Jahre in Großbritannien. Nicht alle haben ihre Kinder zweisprachig erzogen, manche Posts sind auf Englisch oder in Denglisch verfasst. Für viele von ihnen ist mit dem Brexit-Referendum etwas zerbrochen, die Identität als EU-Bürger infrage gestellt worden.
„Als wäre jemand gestorben“
„In der Nacht des Referendums hatte ich ganz stark das Gefühl, dass etwas endet“, sagt Alexandra Gannon, „es war fast so, als wäre jemand gestorben.“ Sie hat zwei Kinder im Grundschulalter und lebt in einem Dorf in den East Midlands. „Zwei Freundinnen stehen zu mir“, sagt sie, „ansonsten fühle ich mich hier zunehmend isoliert.“ Wann immer sie über den Brexit sprechen wolle, erlebe sie Schweigen und plötzliche Themenwechsel. „Da wird dann schnell darüber geredet, wie teuer die Weihnachtsbäume in diesem Jahr sind, um nicht über den Brexit sprechen zu müssen.“ Was ist mit den 48 Prozent die mit „Remain“ – gegen den Brexit – gestimmt haben? Alexandra Gannon sagt, dass selbst diejenigen mittlerweile überwiegend mit „we just want to get over with“ argumentieren. Es schnell zu Ende bringen.
Deutsche vor Rückkehr? 903 Exildeutsche sorgen sich um ihre Zukunft in Großbritannien. Den Brief, den sie unter anderem an sechs Bundesministerien geschickt haben, ist hier nachzulesen:
www.facebook.com/group/407663316291655/.
Brexit-Deal vor Abschluss? Der Entwurf des Brexit-Abkommens, auf den sich Großbritannien und die EU-Kommission verständigt haben, soll am 25. November von einem EU-Sondergipfel gebilligt werden. Dann würde er ab 10. Dezember dem britischen Parlament zur Ratifizierung vorgelegt. (taz)
Wenn sie ihr Haus verkaufen können, wollen Alexandra Gannon und ihr Mann nach Deutschland ziehen. Vorerst verfolgt sie die Schicksale der anderen Rückkehrer, die das Phänomen sarkastisch „Brexodos“ nennen. Eine deutsch-britisch-italienische Familie hat kürzlich ihre Zelte in Großbritannien abgebrochen und einen langen Bericht dazu auf Facebook gepostet. Ihr letzter Satz: „Unsere Heimat bleibt Europa, jetzt in Berlin und Rom.“
Die Forumsmitglieder haben bisher nur eine einzige Antwort auf ihren offenen Brief bekommen. Ein Mitarbeiter des Außenministeriums schreibt, er wisse, dass der Austritt Großbritanniens „die Planungen von Familien beeinflussen und erhebliche Unsicherheit auslösen kann“. Die Bundesrepublik bedauere die Entscheidung des britischen Volkes, respektiere sie aber. Zu den Ängsten bezüglich der Entwicklung in Deutschland schreibt er nichts.
Alexandra Gannon sagt, dass sie das, was sie seit 2016 erlebt hat, politisiert habe. „Ich glaube, dass ich die Pflicht habe, etwas zu unternehmen, um zu verhindern, dass in Deutschland Ähnliches passiert. Einen Rückzug ins Private können wir uns nicht mehr leisten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich