Brasilien nach der Niederlage: Wie sollen wir unsere Kinder trösten?
Der Gastgeber erreicht das Spiel um Platz drei. Eine Demütigung, die kaum zu verkraften ist. Die Brasilianer wittern eine Verschwörung.
Brasilien ist am Ende. „Schande, Katastrophe, es tut weh, Gott sei uns gnädig. Wie sollen wir unsere Kinder trösten?“ Ein Blick ins Internet ist wie die Suche nach Superlativen. „Es ist der Untergang der Titanic!“ Fassungslos. Die Brasilianer verstehen nicht, was passiert ist. Nur langsam besinnen sie sich, aber der Schock wirkt nach.
Kaum jemand hat gut geschlafen in dieser Nacht. Es ist nicht der verpasste Einzug ins Finale, alle wussten, dass diese Seleção nicht besonders gut ist, alle wussten, dass trotz der enthusiastischen Stimmung bei dieser Fußball-WM vieles nicht stimmte. Es war nicht so mitreißend, wie es hätte sein müssen, zu viele Zweifel, zu viel Streit und Kritik, und das schon seit langem. Gegen die netten und guten Deutschen im Halbfinale ausscheiden – doof, aber okay.
Doch das Drama, das sich in Belo Horizonte abspielte, ist was anderes. Eine Demütigung, so unerwartet wie nicht zu verkraften. Vor den Augen der ganzen Welt, im eigenen Land, im Fußball. Wütend sind die Brasilianer, ohne richtig zu wissen, worauf. Auf den Trainer, der einfach nur zugesehen hat, auf die Spieler, die sich nicht gewehrt, die nicht gekämpft haben. Auf die Kolumbianer, die ihren Neymar rausgekickt haben. Auf die Fifa. Auf die Fans, die noch die eigene Mannschaft auspfeifen. Das Gefühl bleibt das gleiche, peinlich, ärgerlich, traurig.
Brasilien liebt die sozialen Netzwerke, dort wird der Frust herausgelassen. Verschwörungstheorien machen die Runde, natürlich war Geld im Spiel, der argentinische Trainer Kolumbiens hat es eingefädelt. Einige versuchen es mit Humor: „Mit 7:1 sind wir noch gut bedient. Endlich im Guiness-Buch! Wo haben die Deutschen ihr Quartier? In Bahia, dort sind die afrobrasilianischen Heiligen, die Spieler haben ein Axé-bad genommen.“
Fiese Schmach
Recht fassungslos auch die WM-Kritiker. Einige hatten sich ein frühes Ausscheiden gewünscht, damit diese WM doch nicht so harmonisch verläuft, wie von oben verordnet. Doch diese Schmach, die ist fies. Politische Auswirkungen werde das Debakel aber nicht haben, ist Orlando Junior vom Comitê Popular da Copa überzeugt.
„Es ist falsch und naiv, dem Sport und bestimmten Ergebnissen politische Bedeutung beizumessen.“ Bestimmt würden einige jetzt versuchen, mit diesem Ergebnis Stimmung zu machen, für oder gegen irgendetwas. „Doch das funktioniert nicht, die Menschen ticken anders und lassen sich davon nicht beeinflussen“, sagt Orlando Junior. Wenig später twitterte bereits der erste Oppositionspolitiker, dass die „kalte“ Regierung für die Niederlage verantwortlich sei und die Rechnung präsentiert bekäme.
Wichtiger seien Botschaften wie die von David Luiz. „Er ist einer der wenigen Nationalspieler, die nicht nur Verständnis für die Protestewelle des vergangenen Jahres zeigten, sondern sie auch unterstützt haben,“ so Orlando Junior. Direkt nach Spielende entschuldigte sich Luiz im Interview am Spielfeldrand und sagte mit Tränen in den Augen: „Vor allem wollte ich dem Volk Freude bereiten, den Leuten, die sowieso schon so viel Leid haben.“
„Schüttle den Staub ab“
Gewohnt beherrscht reagierte Präsidentin Dilma Rousseff: „Wie alle Brasilianer bin ich sehr, sehr traurig. Aber wir werden uns nicht unterkriegen lassen.“ Und zitierte einen populären Samba: „Steh auf, schüttle den Staub ab und gewinne.“
Unmittelbar nach dem Abpfiff ließen einige ihren Frust auf den Straßen heraus. In São Paulo gingen über 20 Busse in Flammen auf, mehrere Buslinien stellten den Verkehr ein. Mehrere Geschäfte wurden geplündert. Auch in Curitiba und Maceió wurden Busse angegriffen und Schaufenster eingeschmissen. Nahe dem Fanfest in Rio, aber auch in anderen Städten kam es zu Überfällen, die Polizei nahm zahlreiche Menschen fest.
„Imagina na Copa – Stell dir vor, das würde bei der WM passieren!“ Der populäre Spruch, der seit Jahren bei allen Pannen während der Vorbereitung zitiert wurde, ist auch in dieser Nacht auf Twitter beliebt. Der brasilianische Humor und die genüssliche Selbstverarschung zeigt jetzt schon, dass das Trauma von 1950 Geschichte ist. „Hätten wir doch nur im Endspiel 1:2 gegen Uruguay verloren!“ unkt der Nächste. Die Analyse des schlechtesten Spiels der Seleção aller Zeiten wird Experten und Psychologen noch eine Weile beschäftigen. Die Schmach wird zwar nicht vergessen, aber auch nicht tragisch sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist