Boris Rhein im Hessen-Wahlkampf: Ministerpräsident auf Bewährung
CDU-Amtsinhaber Rhein grenzt sich im Landtagswahlkampf von der AfD ab. Die Fehler seines Parteichefs Merz machen ihm zu schaffen.
Im petrolblauen Blazer, die Farbe seiner Wahlkampagne, schüttelt der 51-jährige Regierungschef im strömenden Regen Hände. „Echtes Freibadwetter“, sagt Rhein vergnügt. Seine weißen Sneaker ziert ein grüner Streifen.
Seit dem Beginn der Sommerferien tourt Rhein durchs Land. Am 8. Oktober wählt Hessen einen neuen Landtag. Rhein, den die Fraktionen von CDU und Grünen vor gut einem Jahr ins Amt gebracht haben, kämpft um jede Stimme. Bis zur Wahl amtiert er, Vater zweier Söhne, Ehemann einer Richterin, als Ministerpräsident auf Bewährung.
Am verregneten Tag im Freibad sind auf den Stehtischen bunte Badeenten platziert. Aufmerksam verfolgt der Ministerpräsident die Präsentation des örtlichen DLRG-Vorsitzenden: 580 Mitglieder hat der Verein, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. Mehr als 100 Schwimmkurse stemmen Verein und Stadt jährlich. Bürgermeister Lars Keitel, ein Grüner, lobt die Förderprogramme des Landes für Gemeinden, die ihre Hallen- und Freibäder erhalten.
Wahlkampftour unter schlechtem Stern
Rhein lobt im Gegenzug die Kooperation der Stadt mit dem Verein als beispielhaft. Später, am Beckenrand, benennt er die Defizite. 40.000 Kinder im Grundschulalter können nicht schwimmen, 20 Prozent der Jugendlichen haben es bis zu ihrer Entlassung aus der Schulpflicht noch nicht gelernt, doppelt so viele wie vor der Pandemie, sagt Rhein und verspricht neue Anstrengungen zu dem „enormen Thema“.
Während seines Jurastudiums hat er selbst im Frankfurter Stadtteil Hausen als Hilfsschwimmmeister „Beckendienst“ geleistet. „Der Dank gilt den Ehrenamtlern“, sagt Rhein und fügt hinzu: „Wenn die DLRG nicht wäre, würde das Erlebnis Freibad nicht stattfinden können.“
Kameraleute und Fotografen kommen bei der Präsentation der Rettungsübung im Sprungbecken auf ihre Kosten, trotz Dauerregen. Einsam ziehen eine Handvoll Wasserfreunde in den anderen Becken ihre Bahnen. Bei schönem Wetter bevölkern Tausende das Freibad. Die erhoffte Begegnung mit den WählerInnen fällt ins Wasser. Nach „Pommes rot-weiß mit Currywurst – ein echtes Schwimmbadessen!“ folgen Gruppenfoto, freundliche Worte und Autogrammkarten für Lukas und Moritz, den DLRG-Nachwuchs.
Rheins Tour durch Hessen steht bislang unter keinem guten Stern, nicht nur wegen der Großwetterlage. Immer wieder hat CDU-Parteichef Friedrich Merz für Irritationen gesorgt. So ernannte er die Grünen zum „Hauptgegner“. Dabei regiert die Hessen-CDU seit zehn Jahren geräuschlos mit den Grünen und würde die Zusammenarbeit gerne fortsetzen. „Merz wird falsch verstanden, er hat das nur für die Politik auf Bundesebene gesagt“, stellt Rhein klar. „Für mich sind SPD, FDP und Grüne Mitbewerber, nicht Gegner“, so Rhein zur taz.
In der ersten Augustwoche haben sich Rhein und NRW-Amtskollege Hendrik Wüst zu einer Wanderung verabredet. Wüst hat seine Landtagswahl bereits erfolgreich überstanden. Statt mit der FDP regiert seitdem auch er mit den Grünen. Auf den sechs Kilometern vom hessischen Willingen ins nordrhein-westfälische Winterberg wollen die beiden Möglichkeiten der Kooperation erörtern, heißt es.
Die Zahnradbahn, die im Winter Skiflieger der Weltklasse zur Basis der Großschanze bringt, kriecht nur langsam den Berg hinauf. Eine Viertelstunde braucht sie für die 100 Höhenmeter, die die Adler in Sekunden talabwärts segeln. An Bord diesmal die Hoffnungsträger ihrer CDU-Landesverbände, die es vergleichsweise schnell nach oben geschafft haben.
Im Tross von „Boris“ und „Hendrik“ KommunalpolitikerInnen, CDU-Abgeordnete aus Bund und Ländern, Bauernpräsident, Waldbesitzer, NachwuchssportlerInnen und als größte Gruppe rund 50 akkreditierte JournalistInnen. „Ist in Berlin nichts los?“, witzelt Wüst, doch auch er weiß, weshalb sie hier sind. Sie wollen ihn – den möglichen nächsten Kanzlerkandidaten der Union – kennenlernen und dazu seinen weithin unbekannten Parteifreund aus Hessen.
„Bildpunkt eins“ der von den beiden Staatskanzleien penibel orchestrierten Wanderung ist der Skywalk, die längste FußgängerInnen-Hängebrücke Deutschlands. Das filigrane Konstrukt, das an Stahlseilen hängt, 120 Tonnen schwer, überspannt die Schlucht, in der im Winter die Skispringer landen. Auf der hin- und herschwingenden Brücke, 100 Meter über dem Abgrund, trotzen die beiden Ministerpräsidenten Wind und Wetter, stellen sich geduldig in Pose, geben sogar Interviews: „Ein echtes Erlebnis“, schwärmt Rhein danach, „Wir sind sturmerprobt“, sagt lachend Amtskollege Wüst.
Merz stahl ihm die Show
Er spielt wohl auf die Turbulenzen an, die CDU-Partei- und Bundestagsfraktionschef Friedrich Merz mit seinem „ARD-Sommerinterview“ ausgelöst hat. Die Aussage, auf der kommunalen Ebene könne die CDU mit gewählten AfD-Vertretern kooperieren, musste Merz noch am Abend abräumen. Wüst war im Urlaub und schwieg.
Am Montag danach hatte Rhein eine Verabredung mit dem „ZDF-Morgenmagazin“ und später mit den „Tagesthemen“. Er wollte eigentlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er Bundesinnenministerin Nancy Faeser attackierte, die ihm in Hessen die Staatskanzlei als SPD-Spitzenkandidatin streitig macht. In der Bekämpfung der illegalen Immigration versage die Innenministerin; nicht einmal die Zusagen, die der Bundeskanzler den MinisterpäsidentInnen der Länder im Mai gemacht habe, würden umgesetzt, wetterte Rhein und forderte Faeser auf, die Kontrollen an den deutschen Außengrenzen durch die Bundespolizei anzuordnen.
Doch statt dass diese Kritik an Faeser im Mittelpunkt stand, musste Rhein zur besten Sendezeit die Irritationen ausräumen, für die Merz am Abend zuvor gesorgt hatte. „Die Brandmauer zur AfD steht“, versicherte Rhein. „Keine Zusammenarbeit, nirgends!“, so seine Botschaft.
Seinen Ärger darüber, dass durch Merz der Auftakt seiner Wahlkampagne verhagelt wurde, behält er für sich. Auf der Wanderung legt er im Regen im Sauerland nach. „Widerwärtig“ nennt er die Agitation des AfD-Spitzenkandidaten für das Europaparlament. „Wer die EU auflösen will, gefährdet die Arbeitsplätze und die Wirtschaft in Deutschland“, sagt er der taz und weist auf einen aktuellen Zeitungsartikel hin. „In allen Ländern in Europa, in denen konservative Parteien mit den Rechtspopulisten Kooperationen eingegangen sind, haben sie anschließend verloren“, sagt Rhein.
Niederlage ausgerechnet gegen Feldmann
Am Endpunkt der Wanderung, in der überfüllten Skihütte in Winterberg, verkündet Hendrik Wüst schließlich das Ende der Debatte. „Die Führungsfrage in der CDU ist geklärt“, stellt der NRW-Ministerpräsident fest, um die Spekulationen über eigene Ambitionen zu beenden.
Vom Regen durchnässt fordern die beiden Ministerpräsidenten unter einem Hirschgeweih vor laufenden Kameras allerdings ein „transparentes Verfahren“ und die „Einbindung der Landesvorsitzenden“ in der K-Frage. Sie nennen auch den Zeitpunkt für die Entscheidung: nach der Europawahl im Juni nächsten Jahres. Von einem ersten Zugriffsrecht des CDU-Vorsitzenden ist nicht die Rede. „Er wird eine wichtige Rolle spielen“, sagt Rhein gönnerhaft über Merz.
Taktische Fehler sind Rhein nicht fremd. Vor elf Jahren hat er seine erste Spitzenkandidatur in Frankfurt am Main versemmelt. 2012 hatte Petra Roth, die gefühlt ewige Oberbürgermeisterin der Stadt, überraschend ihren Posten für den damals amtierenden Landesinnenminister und „Frankfurter Bub“ Rhein frei gemacht. Scheinbar eine klare Sache. Doch Rhein scheiterte in der Stichwahl am seinerzeit weithin unbekannten Sozialdemokraten Peter Feldmann.
Rhein hatte auf Plakaten mit Weichzeichner den sanften Familienmenschen gegeben. Die grüne Basis hatte indes noch die Attacken des jungen Innenpolitikers im Ohr, mit denen er im Landtag den damaligen grünen Justizminister Rupert von Plottnitz als „Sicherheitsrisiko“ gebrandmarkt hatte. Als JU-Kreisvorsitzender hatte Rhein gar den Publizisten Michel Friedman, zeitweise Vorstandsmitglied der CDU im Bund, als „Belastung für die Frankfurter CDU“ bezeichnet und ihm den Parteiaustritt nahegelegt, weil er zu liberal sei.
Rhein überlebte die Niederlage politisch, zunächst als Wissenschaftsminister, dann als Landtagspräsident. In beiden Ämtern gewann er an Format, etwa als er als Landtagspräsident nach den rassistischen Morden von Hanau und an seinem CDU-Kollegen Walter Lübcke die richtigen Worte fand.
Verliert Rhein nun die Wahl im Oktober, war seine zweite Chance zugleich seine letzte. Nach 25 Jahren an der Macht will die CDU die Staatskanzlei behaupten. Notfalls tauscht sie dazu den schwächelnden grünen Partner gegen die SPD aus.
Nach den langen Jahren in der Opposition sei deren Preis für eine Regierungsbeteiligung vielleicht sogar günstiger, sagen die Parteistrategen aus Rheins Umfeld. Nur eine Ampel unter Nancy Faeser als Ministerpräsidentin müsse unbedingt verhindert werden. „Wer am 8. Oktober AfD wählt, wacht am nächsten Tag mit einer Ampel auf“, warnt Rhein deshalb bei jedem Wahlkampfauftritt; dann herrsche auch in Wiesbaden, wie derzeit in Berlin, „Streit und Chaos statt Stabilität und Verlässlichkeit“, so Rhein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen