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: Der Mensch dahinter

Die Historikerin Marie Sophie Hingst fälschte Holocaust-Schicksale. Nun ist sie gestorben. Und am „Spiegel“, der ihren Betrug aufdeckte, regt sich Kritik. Zu Recht?

Hingst hatte auch gefälschte Gedenkblätter an die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geschickt Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Von Peter Weissenburger

Um es gleich vorweg zu unterstreichen: Wie die 31-jährige Marie Sophie Hingst zu Tode gekommen ist, ist ungeklärt. Die Information über ihr Ableben kommt von einem Reporter der Irish Times, der in Berlin lebt und regelmäßig Kontakt zu ihrer Mutter pflegte. Über diesen Weg wissen wir auch, dass es offenbar zu keinen äußeren Einwirkungen gekommen ist. Wer die Geschichte um die Hochstaplerin verfolgt hat, mag da Selbsttötung vermuten. Aber geklärt ist das zum jetzigen Zeitpunkt nicht.

Hingst, die Holocaust-Schicksale erfand und auch selbst fälschlich als Jüdin und Enkelin einer Überlebenden auftrat, litt offenbar unter psychischen Problemen. Spiegel-Journalist Martin Doerry hatte Ende Mai diesen Jahres den Betrug schonungslos aufgedeckt. Hätte der Spiegel sensi­bler mit einer erkrankten Person umgehen sollen?

Die irische Zeitung berichtete am Samstag vom Tod Hingsts in Dublin. Autor Derek Scally, der im Fall Hingst offenbar länger intensiv recherchiert und auch nach der Spiegel-Enthüllung mit Hingst gesprochen hat, zitiert die Mutter der Verstorbenen mit einem schweren Vorwurf gegen Spiegel-Autor Doerry. Doerry habe versäumt, die Person hinter den Fakten zu sehen.

Marie Sophie Hingst, eine in Dublin am renommierten Trinity College promovierte deutsche Historikerin, hatte über Jahre gefälschte Gedenkblätter an die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geschickt, wie Doerry im Mai im Spiegel überzeugend dargelegt hat. Insgesamt 22 Schicksale hatte sie erfunden. Auch ihre eigene Herkunft hatte Hingst konstruiert, eine Überlebende als Großmutter erschwindelt. Ihre Storys wurden unter anderem in ARD-Sendern als Fakten berichtet. Hingst betrieb mit ihren Geschichten ein erfolgreiches Blog, erhielt dafür einen Blogger*innen-Preis, der ihr nach der Spiegel-Recherche aberkannt wurde.

Hingst versuchte zeitweise die Echtheit ihrer Geschichten zu belegen, behauptete dann wieder, jemand gebe sich als sie aus und berief sich schließlich auf den literarischen Charakter ihres Blogs. Irish Times-Reporter Scally zitiert sie mit den Worten, sie habe sich gefühlt, als würde sie vom Spiegel „lebendig gehäutet“.

Der Spiegel-Verlag will den Doerry-Text nicht weiter kommentieren und „bedauert“ Hingsts Tod. In der eigenen Nachricht über ihr Ableben schreibt das Hamburger Magazin knapp: „Die sachliche Richtigkeit der in dem Spiegel-Artikel beschriebenen Tatsachen ist unumstritten.“ Redakteur Felix Bohr verteidigte seinen Kollegen derweil auf Twitter gegen Kritik. Es sei „infam“, Doerry verantwortungsloses Verhalten vorzuwerfen.

Eher gibt es ein Zuviel von dem Menschen Marie Sophie Hingst in der Debatte

Hat Doerry, wie die Mutter sagt, den Mensch hinter der Geschichte nicht mehr gesehen? Viel eher ist es genau andersherum. Viel eher gibt es ein Zuviel von dem Mensch Sophie Hingst in dem Spiegel-Text, im Report der Irish Times und in der Debatte um den Fall. Bei Doerry heißt es im typischen Beschau-Absatz, sie wirke „mädchenhaft“, und: „Eitelkeit scheint ihr fremd“. Irish Times-Autor Scally geht noch weiter und fertigt in seinem Text, verfasst nach Hingsts Tod, beinahe ein Psychogramm an. Da changiert ihre Stimme zwischen „mädchenhaftem, spielerischem“ Ton und dem Modus „wütende Erwachsene“, da flattern die Hände im Schoß „wie zwei rastlose Vögel“. Klar, Hingst, die Holocaust-Hochstaplerin, ist ein Faszinosum. Aber der Skandal spielt eigentlich ganz woanders. Er liegt in der erschütternden Erkenntnis, dass sich eine Holocaust-Geschichte recht einfach fälschen lässt. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, bei der Bloggerszene und bis hin zur Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die Einsendungen im guten Glauben annimmt. Für die Erinnerungskultur ist das eine Katastrophe.

Es wäre keine Option gewesen, weder für Doerry noch für irgendwen, eine Berichterstattung über all das einfach zu unterlassen. Die Hauptverdächtige dabei aus Rücksicht aus dieser Geschichte herauszuhalten, war wiederum auch nicht möglich.

Was hingegen Marie Sophie Hingst psychisch gequält hat, und auf welche Weise sie nun ums Leben gekommen ist, das geht uns nichts mehr an. Marie Sophie Hingst soll in Frieden ruhen können.

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