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Blinde FleckenDie überhitzte Welt

Mit jedem zehntel Grad Erderwärmung gibt es mehr Menschen, die in unbewohnbaren Regionen leben. Doch im Migrationswahlkampf ist Klima kein Thema.

Menschen und Tiere im Norden Kenias leiden unter lang anhaltenden Dürren Foto: Simone Boccaccio/imago

D ie Nachricht hatte fast amtlichen Charakter. Der EU-Klimadienst Copernicus meldete zum Jahresbeginn, dass die Erderwärmung im Jahr 2024 die Messlatte von 1,5 Grad erstmals gerissen hat. Wir sind bei 1,6 Grad gelandet, viel schneller als vorhergesagt. Wer jetzt größere Stichflammen der Erregung erwartete, ist enttäuscht worden. Die Nachricht wurde entgegengenommen wie eine Mitteilung des Bundes der Steuerzahler. Achselzuckend. Dabei waren die 1,5 Grad das heilige Eichmaß der Klimapolitik, auf das sich seit der Konferenz von Paris 2015 alle Akteure stets bezogen haben. Mit ihrer regelmäßigen Ausrufung ließ sich entschlossener Klimaschutz insinuieren, ohne ihn jemals mit konkreten Maßnahmen zu unterfüttern.

Was bedeutet die Erderwärmung von 1,6 Grad, außer dass eine Grenzlinie überschritten wurde? Die reichen Länder, die zu großen Teilen für die Klimakrise verantwortlich sind, müssen verschärft mit Hitzewellen, Hochwasser und anderen Wetterextremen rechnen. Für die ärmeren Länder, deren Pro-Kopf-Ausstoß von Treibhausgasen oft nur halb so groß ist wie der globale Durchschnitt oder noch niedriger, ist die Lage weit bedrohlicher.

1,6 Grad mehr auf dem Thermometer verschärfen vor allem die Lebensbedingungen in den heißen Ländern. Einige Regionen des Hitzegürtels der Erde werden ganz einfach unbewohnbar, sofern sie es nicht schon sind, und Landwirtschaft ist dort nicht mehr möglich. Damit hat die Klimakrise direkte Folgen für die Massenflucht von Millionen.

Vor zwei Jahren haben Klimaforschende Berechnungen vorgelegt, wonach 600 Millionen Menschen zu diesem Zeitpunkt unter klimatischen Bedingungen leben, die ihre Heimat eigentlich unbewohnbar machen. Jedes zehntel Grad weiterer Erwärmung vergrößert die Flächen mit planetarem Fieber. Aber wie ist „Unbewohnbarkeit“ überhaupt definiert? Als ein gerade noch behagliches Temperaturfenster werden in südlichen Regionen Durchschnittswerte von 22 bis 26 Grad im Jahreslauf angesehen. Bei einer Temperatur von 28 Grad wird es kritisch. Regionen mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von über 29 Grad (Tag- und Nachtwerte) gelten als unbewohnbar. Im Jahr 1980 lebten 0,3 Prozent der Weltbevölkerung in solchen nicht mehr tolerierbaren Hitzezonen. Inzwischen sind es 9 Prozent.

Das ist nicht Worst Case, sondern realistisch

Die gegenwärtige Klimapolitik führt nach Aussagen des Weltklimarats IPCC zu einer Erderwärmung von 2,7 bis 3,1 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts (2080 bis 2100). Dies ist kein Worst Case, sondern ein seriös-realistisches Szenario, das die Maßnahmen der aktuellen Klimapolitik in entsprechende Emissionstabellen und Gradzahlen fließen lässt.

2,7 Grad würden bedeuten, dass dann rund zwei Milliarden Menschen in überhitzten, nicht mehr bewohnbaren Regionen leben, so die Abschätzung der Klimafolgenforschung. Sollte die Menschheit ihre Anstrengungen doch noch verschärfen und bei 2,4 Grad niederkommen, wäre die Heimat von 1,3 Milliarden Menschen unbewohnbar. Schaffen wir – was derzeit einem Wunder gleichkäme – die 2-Grad-Grenze, würde die Zahl der außerhalb der Zumutbarkeit lebenden Menschen „nur“ auf 823 Millionen steigen. In jedem Fall wird die Zahl der Klimaflüchtlinge dramatisch zunehmen, der Migrationsstrom weiter und weiter anwachsen.

Man kann sich die betroffenen Regionen auf der Weltkarte ansehen. Nordamerika und Europa gehören nicht dazu. Dafür der nördliche und zentrale Teil Südamerikas (Brasilien, Ecuador, Venezuela und so weiter), weite Gebiete West- und Zentralafrikas sowie Kenia in Ostafrika, dazu die arabische Halbinsel, der indische Subkontinent, das nördliche Australien und einige Inselstaaten.

Natürlich setzen die von Überhitzung betroffenen Menschen alles daran, ihr Lebensumfeld abzukühlen. Aber Klimaanlagen und ihr Betrieb kosten Geld. Die Internationale Energieagentur hat die rasante Zunahme der global installierten Klimaanlagen dokumentiert. Ihre Zahl hat sich seit 1990 von rund 600 Millionen vervierfacht auf aktuell 2,4 Milliarden; sie wird Mitte des Jahrhunderts bei 5,5 Milliarden liegen. Große Energieverbräuche mit hohen Treibhausemissionen sind die Begleiter dieser Entwicklung.

Dort, wo keine Abkühlung möglich ist, müssen sich die Menschen auf den Weg machen in bewohnbare, menschenfreundlichere Regionen. Eine Bereitstellung von alternativem Lebensraum ist in keinem Klimamodell vorgesehen. Millionen bleibt nur die Flucht, der nackte Kampf ums Überleben an einem besseren Ort. Doch der Klimawandel wird selten mit dem direkten Verlust von Heimat und Lebensraum von Menschen in Verbindung gebracht. Die Flucht des Kabeljaus aus der zu warmen Nordsee ist uns geläufiger als die der Einwohner in zu heiß gewordenen Landstrichen.

Migration ist in diesem Bundestagswahlkampf zum Topthema avanciert, das täglich die Nachrichten flutet. Das Klimadesaster wird dabei komplett ausgeblendet. Zur Verarbeitung von Klimakatastrophen gehört es eher, sie in Geldbeträge zu übersetzen.

Es geht nicht um Geld, sondern um Leben und Tod

Solche Hochrechnungen beziehen sich in aller Regel auf die reichen Länder. Auch bei der jüngsten Feuerkatastrophe in der Millionenmetropole Los Angeles ist die Kostenschätzung – 250 Milliarden Dollar – ein unverzichtbares Attribut, um das verheerende Ausmaß wenigstens monetär einzufangen.

Doch es geht beim Klima nicht vorrangig um Geld. Es geht „um Leben und Tod“, wie die Londoner Physikerin und Klimawissenschaftlerin Friederike Otto in ihrem viel beachteten Buch „Klimaungerechtigkeit“ schrieb.

Die lebensgefährlichen Fluchtrouten via Mittelmeer und Atlantik nach Europa belegen diese These. Doch in Europa und den USA ziehen diejenigen, die für die Erdüberhitzung die Hauptverantwortung tragen, die Mauern hoch. Und der nicht zu leugnende Zusammenhang zwischen Klimadesaster und Massenflucht verliert sich im politischen Überbietungswettbewerb der Parteien um die härteste Migrationspolitik.

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Manfred Kriener
Manfred Kriener, Jahrgang 1953, ist Umweltjournalist und Autor in Berlin. Themenschwerpunkte: Klima, Umwelt, Landwirtschaft sowie Essen & Trinken. Kriener war elf Jahre lang taz-Ökologieredakteur, danach Gründungschefredakteur des Slow-Food-Magazins und des Umweltmagazins zeozwei.. Zuletzt erschienen: "Leckerland ist abgebrannt - Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur". Das Buch schaffte es in die Spiegel-Bestsellerliste und wurde von Umweltministerin Svenja Schulze in der taz vorgestellt. Kriener arbeitet im Journalistenbüro www.textetage.com in Kreuzberg.
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11 Kommentare

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  • Trump hat dem Klimaschutz den Krieg erklärt weil der angeblich gegen die Interessen der USA ist. Er nimmt somit zB. den Hungerttod von Millionen in Kauf und sehr gewaltsame (vermutlich) Völkerwanderungen in den nächsten Jahrzehnten etc.



    Man vergleiche mal die Interessen von Putins Russland und Trumps USA - da wird der aktuelle Ukraine-Konflikt ja geradezu als "Lachnummer" - in den Medien von FAZ bis TAZ kommt dies nirgendwo vor.



    Die Welt braucht ein Verteidigungsbündnis Klimaschutz, ähnlich strukturiert wie die NATO*.



    *) ohne, wie die NATO, die schon im "konventionellen" Bündnisfall den tausendfachen Tod von Menschen und Zerstörung/Elend in Kauf nimmt - im Interesse von wem?

  • Sehr guter Kommentar, er spricht mir aus der Seele. Ich habe die Zusammenhänge folgendermaßen bei "Perspective Daily" kommentiert und den Artikel zitiert (Auszug):

    /Anfang



    Was ist denn nun mit der Migration von Süd nach Nord?

    1. Sie ist eine Folge von Kriegen, an denen wir indirekt beteiligt sind. Es geht nämlich zum Großteil um Ressourcen, die unseren Wohlstand garantieren.

    2. Sie ist eine Folge des früher so genannten "Nord-/Südgefälles" oder besser des zügellosen Kapitalismus, der wiederum von "uns" in den Süden exportiert wurde. Menschen zieht es natürlicherweise da hin, wo sie eine Chance zur wirtschaftlichen Entwicklung haben. Tun wir das nicht alle? Was hat das mit den Grenzen zu tun?

    3. Sie ist, und wird es noch viel mehr werden, eine Folge des Klimawandels.

    Man muss am Verstand, besser der Vernunftbegabung der allgegenwärtig den Populisten nachlaufenden Mitbürger zweifeln, wenn sie diese einfachen Zusammenhänge nicht begreifen.

    Sehr gut auf dem Punkt gebracht wurde das in diesem Kommentar (verlinkt) in der taz

    /Ende

    Einen sonnigen Tag!

  • Das ist es, was ich meine: Diese verdrängten Probleme werden Trump und Co. demnächst auf die Füße fallen. Das industriepolitische Weiter So ist nicht zukunftsfähig.

  • "Die Flucht des Kabeljaus" — mal Butter bei die Fische: da fehlt doch was: Was können wir machen?

    Aktuell: in weniger als zwei Wochen ist Bundestagswahl. Welche Wahlentscheidung gibt die besten Chancen, die Erwärmung zu begrenzen?

    (Antwort: die Grünen)

    • @Arne Babenhauserheide:

      Noch besser: Linkspartei. Die wollen die auf Irrtümern basierende Schuldenbremse ganz abschaffen.



      Staatsschulden und Staatsausgaben sind eine Geldschöpfung aus dem Nichts, da der Staat sein Konto bei der Zentralbank hat. Technisch könnte er also beliebig viel Geld erzeugen.



      Eine Grenze sollte gezogen werden, wo die Produktionskapazitäten an ihre Grenze kommen, weil Ressourcen wie z.B. Arbeitskraft knapp werden, also kurz vor der Vollbeschäftigung, (z.B. Arbeitslosigkeit max. 0,5 Prozent). Erst ab diesem Punkt kann mehr staatliches Geld überhaupt preiswirksam werden (nicht zu verwechseln mit Hyperinflationen, auf die wurde in der Geschichte auch oft mit Gelddrucken reagiert, aber eben erst hinterher).

  • "ein seriös-realistisches Szenario" — das heißt, genauso wahrscheinlich, wie es doch nicht so schlimm werden könnte, kann es auch schlimmer werden.

    Quelle für Current Policies: "Implemented policies result in projected emissions that lead to warming of 3.2°C, with a range of 2.2°C to 3.5°C (medium confidence)"



    IPCC synthesis report, Seite 22: www.ipcc.ch/report...CC_AR6_SYR_SPM.pdf

  • Ja, Zustimmung, und jetzt zur Frage, welche Strategie steckt dahinter? Wenn wir unterstellen, dass "Reiche und Mächtige" nicht dumm sind, dann folgt doch daraus, dass ein Massensterben in Kauf genommen wird, oder? Welcher Ideologie folgt diese Strategie?

    • @ThomLa:

      Kapitalismus heißt diese Ideologie. Die Gewinne aus fossiler Energie dürfen nicht gefährdet werden, ganz egal welche folgen dies hat. Laut Christian Stöcker, dem Autor des Buches „Männer, die die Welt verbrennen“, sprechen wir da seit 1970 von 3 Mrd Dollar pro Tag, Gewinn nicht Umsatz. Und dafür ist eine sehr kleine Gruppe von Menschen bereit, den Rest von uns und nicht menschliche Lebewesen in denn Abgrund zu werfen.



      www.ullstein.de/we...over/9783550202827

    • @ThomLa:

      Kapitalismushalt. Gehen Sie weiter, hier gibt's nichts zu sehen.

      Man kann das auch ausrechnen: drei durchschnittlich CO2-emittierende Europäer (oder 2 Deutsche oder 1 Ami) ruinieren den Lebensraum für einen Menschen auf dem Planeten.

      www.nature.com/art...s41893-023-01132-6

      Für die Coronaleugner: hier wird ein _Lebensraum_ zerstört, man kann also nicht argumentieren, die sind alt/vorerkrankt/linksgrün o.ä. und würden eh bald sterben.

    • @ThomLa:

      Wen meinen Sie mit den Reichen und Mächtigen?

      M.E. bedarf es da keiner Strategie. Das passt in ein Muster, dass seit Jahrzehnten bekannt ist: Ausblendung der eigenen Verantwortung, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Zieht sich durch viele Politikbereiche: Die Themenbereiche Migration und Soziales sind da nur Paradebeispiele. Und im Zweifelsfall delegiert man dann noch die Verantwortung für die Probleme entlang der Machtlinien nach unten.



      An Migration ist der Migrant schuld, an Integrationsproblemen auch, an Problemen auf dem Wohnungsmarkt, in der Gesundheitsversorgung und im Bildungswesen sowieso. Einen eigenen Beitrag, eine Mitverantwortung? Die gibt es nicht.

      Das ist der Kern des Programms von AfD, BSW und CDU. Rechnen Sie mal deren Stimmanteile zusammen

      • @Libuzzi:

        Auch wenn der Migrant nicht schuld ist, wird sich an dessen Schicksal nichts ändern. Weder in der Politik noch in den Köpfen. Der Versuch der verbalen Abschottung hat doch schon längst begonnen. Und danach, bevor die Felle wegschwimmen wird auch physisch abgeschottet. Und daran ändert auch nichts, wenn man jetzt ökologisch, vegan oder menschenfreundlich wählt. Die Zukunft wird ungemütlich werden. Dieser Kipppunkt ist doch längst überschritten. Nüchtern/realistisch betrachtet ist es doch nur noch wichtig, auf der "richtigen" Seite der Mauer zu wohnen.