■ Bislang sagten die Bündnisgrünen nein zur Nato. Doch wenn sie 1998 regieren wollen, werden sie nicht nur ja sagen müssen, sondern auch der Osterweiterung zustimmen, prophezeit der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Joschka Fischer: Osterw
taz: Herr Fischer, der russische Außenminister Primakow hat die Osterweiterung der Nato als größten Fehler nach Beendigung des Kalten Krieges charakterisiert. Stimmen Sie zu?
Joschka Fischer: Ob es der größte Fehler, ob es überhaupt ein Fehler ist, weiß ich nicht. Das wird die Zukunft zeigen. Ich hätte statt der Nato-Osterweiterung allemal ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem jenseits der Militärbündnisse für wesentlich sinnvoller und besser gehalten. Denn die Osterweiterung vermag eines nicht: Sie bringt kein gesamteuropäisches System gemeinsamer und gleicher Sicherheit. Sie droht statt dessen eine neue Grenze zu setzen. Wenn es also gutgehen soll, so wird die Nato-Osterweiterung eines Tages mit dem Beitritt eines demokratischen Rußlands enden müssen. Sie wird dann nur eine Zwischenstufe bei der Entwicklung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems sein, das die Nato, wie wir sie heute kennen, hinter sich läßt. Wenn es aber schlechtgeht, wird die Erweiterung zu neuen Konfrontationen führen. Dann wird Primakow recht behalten.
Die Nato von Vancouver bis Wladiwostok?
Das ist die Konsequenz der zu Ende gedachten Osterweiterung, nur wäre das dann nicht mehr die Nato, selbst wenn sie so noch hieße. Es darf ja nicht darum gehen, die Blockkonfrontation durch die Ausdehnung eines Blocks aufrechtzuerhalten. Das scheint auch kaum jemand ernsthaft zu wollen. Es geht also darum, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu entwickeln, das sich nicht mehr auf gegenseitiger Bedrohung gründet und in Europa auch keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit zuläßt. Das vermag die Osterweiterung bislang nicht zu gewährleisten. Wenn man sie aber zu Ende denkt, wird eine Entwicklung der Nato hin zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem eines Tages auch die Zugehörigkeit eines demokratischen Rußlands beinhalten müssen.
Wogegen soll ein Nato-Mitglied Rußland verteidigt werden? Gegen China, gegen den Iran?
Gegen gar niemanden. Es geht dann nicht mehr um Verteidigung, sondern um Einbindung, friedlichen Interessensausgleich und gemeinsame Sicherheit aller Beteiligten. Eine positiv verlaufende Osterweiterung der Nato würde zu deren völliger Transformation führen, weg vom heutigen Militärbündnis hin zu einer gemeinsamen Sicherheitsstruktur bei Wegfall der militärischen Bedrohungspotentiale. Das wäre kein Militärbündnis mehr, sondern ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem.
Worin unterscheidet sie sich dann noch von der OSZE?
Durch das Firmenschild. Der Schlüssel für die europäische Sicherheit liegt nach wie vor in Washington, das werden unsere Linken auch noch lernen. Öffentlich leider erst im Regierungsfall, insgeheim wissen sie das ja längst. Diese Rolle der USA in Europa haben in unserem Jahrhundert zwei Weltkriege, das hat nochmals der Bosnien-Konflikt deutlich gemacht. Europa war nicht in der Lage, diesen Konflikt zu lösen. Nicht mit friedlichen, nicht mit militärischen Mitteln. Es konnte diesen Konflikt noch nicht einmal begrenzen. Ohne die amerikanische Intervention hätte dieser Krieg einen schrecklichen Ausgang genommen. Daraus muß man die bittere Konsequenz ziehen, daß europäische Sicherheit bis auf weiteres ohne die USA nicht denkbar ist. Und das ist der entscheidende Punkt. In Washington wird letztendlich darüber entschieden, ob eine Osterweiterung der Nato ratifiziert wird. Das wird weder in Bonn noch in Paris, noch in einem anderen Mitgliedsstaat tatsächlich entschieden. Faktisch entscheiden die USA, weil nur sie die Sicherheitsgarantien geben können. Und in Washington gibt es keine Mehrheit für eine aufgewertete OSZE. Dort hält man, wenn überhaupt, an der Nato fest...
...und befürwortet im Moment nur die Aufnahme von drei Aspiranten. Sollen Polen, Tschechien und Ungarn Mitglied werden?
Im Moment befinden wir uns noch in der Phase der Verhandlung, bei der eine Reihe wichtiger Elemente zu bedenken sind. Zum einen die Möglichkeit einer neuen Konfrontation mit Rußland, zum anderen die inneramerikanische Auseinandersetzung um die entscheidende Frage der europäischen Sicherheitsgarantien. Vor allem müssen wir unser Verhältnis zu Polen bedenken. Eine Position, die in Polen Ängste vor einem neuen russisch-deutschen Ausgleich zu Lasten Polens hervorruft, ist nicht zu verantworten. Das muß man genauso ernst nehmen wie die eigenen Befürchtungen gegenüber einer Nato-Osterweiterung.
Sind die Ängste der Balten, der Ukrainer, deren Wunsch nach einer Nato-Mitgliedschaft, nicht genauso berechtigt?
Doch, aber das deutsche Verhältnis zu Polen ist ein sehr spezifisches. Man darf die Geschichte der polnischen Teilungen bis 1939 nicht einfach vergessen. Jede deutsche Position, egal von welcher Partei artikuliert, muß darauf Rücksicht nehmen.
Wesentliche Teile Ihrer Partei wollen die Nato keinen Meter weit nach Osten ausdehnen.
Ja, die aktuelle Beschlußlage ist ein eindeutiges Nein zur Nato-Osterweiterung. Die Frage ist doch, was erreichen wir, wenn wir unsere ganze Skepsis in einem klaren Nein münden lassen, obwohl wir wissen, daß sie kommt. Werden wir die Nato-Osterweiterung dadurch behindern? Werden wir sie verlangsamen oder wenigstens optimieren? Oder bleiben wir nicht vielmehr bei dem ganzen Prozeß außen vor? Die zweite Frage und eigentlich entscheidende Frage ist aber: Was erreicht man mit einem starren Nein, wenn man für 1998 eine rot-grüne Regierung anstrebt? Nur als Regierungspartei werden wir diesen Prozeß praktisch beeinflussen können. Welche Gestaltungsmöglichkeit hätte dann aber eine grün beeinflußte Außenpolitik nach 98? Wie produktiv oder vielmehr kontraproduktiv ist dann wohl eine solch starre Festlegung?
Diese außenpolitischen Gretchenfragen werden bei den Grünen anscheinend sehr unterschiedlich beantwortet.
Wenn ich mir die Differenzen in meiner Partei in der Sache anschaue und die teilweise nur schwer erträgliche Billig-Polemik weglasse, dann messen sich diese Differenzen nach Stellen hinter dem Komma. Leute wie Ludger Volmer wollen die Grünen jetzt noch einmal auf ein deutliches Nein festlegen, um dann hinterher, auf dem Boden der neuen Realitäten, Politik zu machen. Und dann werden sie ihre ganze Polemik unter wilden Verrenkungen wieder einsammeln müssen, sehr zur Enttäuschung der eigenen Anhängerschar. Ich plädiere also dafür, sich nicht jetzt auf ein abschließendes Nein festzulegen. Wenn die Osterweiterung kommt, gilt es, die Entwicklung hin zu einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem zu verstärken. Ich plädiere auch deshalb dafür, weil ich Rot-Grün 1998 nicht nur für eine wünschbare, sondern auch für eine machbare Alternative halte. Jede grüne Position, die Friedenspolitik in Regierungshandeln umsetzen will – und darum geht es –, braucht Partner. Sie braucht Partner jenseits der deutschen Grenzen. Und diese Partner müssen Vertrauen in unsere Absichten haben.
Und was kann ein grünes Ja bewirken?
Wir werden als Bundestagsfraktion frühestens mit der Ratifizierung der Beitrittsverträge eine Entscheidung im Parlament zu fällen haben, und das wird ganz sicher erst nach 1998 sein. Und ich hoffe und kämpfe dafür, daß wir dann als Teil einer neuen Reformmehrheit diese Entscheidung zu treffen haben. Ratifizierung ja oder nein, wird es da heißen. Und glaubt denn allen Ernstes irgend jemand, daß dann entweder die Nato-Osterweiterung an Deutschland oder aber eine rot-grüne Reformmehrheit am Ja dazu scheitern wird? Warum sagen unsere linken Strategen unserer Partei denn nicht heute bereits die ganze Wahrheit, die sie ja nur zu gut kennen?
Und was ist die grüne Position, wenn im Sommer die ersten Kandidaten in die Nato aufgenommen werden?
Die grüne Position ist heute Nein. Praktische Politik jenseits des Bekenntnisses wird dies aber erst im Falle eines Wahlsieges und wenn es um die Ratifizierung im Deutschen Bundestag geht nach 1998. Meine große Sorge ist, daß wir jetzt mit einer typisch grünen Bekenntnisdebatte die Optionen für eine grün gestaltete Friedenspolitik wesentlich verschlechtern. Und das völlig unnötigerweise. Ob die Nato-Osterweiterung kommt, ist nicht die praktische Frage, denn wir werden sie nicht verhindern können. Wenn sie aber kommt, sind wir dann unter neuen Mehrheitsverhältnissen hierzulande in der Lage, sie zur Entwicklung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems zu nutzen? Das ist die alles entscheidende Frage, die sich historisch stellt. Das wird viel Vertrauen bei unseren Nachbarn voraussetzen, sonst bleibt es lediglich bei Parteitagsbeschlüssen und Bekenntnissen, und wir haben eine historische Chance für grüne Friedenspolitik nicht zu nutzen vermocht.
Nennen Sie die Entwicklungsschritte.
Wenn es zu einer Osterweiterung kommt, müssen wir alles daran setzen, daß die militärischen Komponenten drastisch abgerüstet werden. Entnuklearisierung, weitgehender Abbau konventioneller Bedrohungspotentiale, Internationalisierung noch vorhandener militärischer Potentiale, so muß die Orientierung sein. Wir brauchen ein hohes Maß an Integration Rußlands und der Ukraine in kooperative Sicherheitsstrukturen. Auch andere Nationen müssen in diese vertrauensbildenden Maßnahmen einbezogen werden.
Für Ludger Volmer ist Ihre Position kein Grund mehr, grün zu wählen.
Ja, für schlechte Wahlergebnisse bin ich bekannt. Aber im Ernst, da erklärt ein führender Vertreter der Linken öffentlich seine Partei für nicht mehr wählbar! Ich finde das unglaublich. Ich versuche mir mal vorzustellen, was bei uns los wäre, wenn zum Beispiel ich das gesagt hätte. Meine Güte! Das hat nichts mehr mit einer scharfen Auseinandersetzung in der Sache zu tun, sondern versucht nur noch den innerparteilichen Gegner zu denunzieren. Mit dieser Methode à la Jutta Ditfurth wurde unsere Partei bereits einmal in den Abgrund gestürzt, und ich dachte, diese Lektion hätten wir gemeinsam und ein für allemal gelernt! Ich finden diesen Stil selbstzerstörerisch, durch die Sachdifferenzen nicht zu rechtfertigen und angesichts der Verantwortung unserer Partei für eine neue Reformmehrheit 1998 völlig verantwortungslos.
Die Beschlußlage der Grünen fordert noch immer die Abschaffung der Nato.
Wenn deutsche Politik versucht, die Existenz der Nato in Frage zu stellen, gibt sie die beste Existenzgarantie für das Bündnis. Ein gewisser Karl Marx nannte das Dialektik. Historisch gab es drei Existenzgründe für die Nato: To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down. To keep the Russions out, ist vorbei, to keep the Americans in, ist weiterhin notwendig, und to keep the Germans down würde sofort in Ost und West als wieder zwingend notwendig angesehen werden, sollte hierzulande, egal ob von rechts oder von links, die Frage nach der Existenzberechtigung der Nato gestellt werden. Davor kann ich nur nachdrücklich warnen.
Auch ein grüner Außenminister erklärt also, daß er verläßlich zum Bündnis und den daraus erwachsenden Verpflichtungen steht.
Nicht ein grüner Außenminister, sondern eine grüne Regierungspartei. Das muß den Grünen klar sein. Im Gegensatz zu vielen Linken in meiner Partei, die mir unter der Hand immer erklären, sie wüßten, daß sich von unserer Position kaum etwas durchsetzen lasse, bin ich allerdings der Meinung, daß wir dann eine Menge von dem, was wir friedenspolitisch anstreben, mit langem Atem auch durchsetzen können. Allerdings nur, wenn wir die Konstanten deutscher Außenpolitik immer zur Grundlage nehmen. Keine deutschen Alleingänge, die Westbindung nicht in Frage stellen, die europäische Integration voranbringen und die Politik der Selbstbeschränkung nicht aufgeben. Wir müssen die Vertrauensgrundlage bei unseren Nachbarn für unsere Außenpolitik haben, um unser großes Ziel zu erreichen: ein integriertes, demokratisches Europa des Friedens über die früheren Blockgrenzen hinweg. Damit wäre der Krieg von Europa, diesem Kontinent des Krieges, endgültig verbannt. Das ist die wesentliche außenpolitische Sache, für die in Deutschland eine Reformmehrheit 1998 antreten muß.
Interview: Bettina Gaus
und Dieter Rulff
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