wir lassen lesen: Selbstfindung durch den Sport
Die Stärke des Buches von Weitspringerin Malaika Mihambo ist das Eingeständnis ihrer Schwäche
Der Titel des Buches von Malaika Mihambo, 29, Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Weitsprung, ist ein Imperativ: „Spring dich frei“. Erst im Untertitel gibt sie sich eine Stimme: „Mein Weg zu Achtsamkeit und innerer Stärke“. Es ist ein schwerer Weg für die dreimalige Sportlerin des Jahres, daraus macht sie in dem gerade erschienenen Buch keinen Hehl. Das hat zwar einige Schwächen, insbesondere handwerklicher Art, so brechen Sätze gelegentlich einfach ab, die Zeiten und die Grammatik werden falsch gebildet, sprachliche Schnitzer mindern den Lesegenuss. Das ist schade und hätte mit einem aufmerksamen Lektorat verhindert werden können. Aber das Buch ist dennoch lesenswert und aufschlussreich, weil Malaika Mihambo eine hochinteressante, oft packende Geschichte zu erzählen hat.
Mihambos Vater verlässt die Familie, da ist seine Tochter gerade zwei Jahre alt. Die alleinerziehende Mutter bricht ihr Studium ab, um ganz für ihre Tochter da zu sein; sie leben in schwierigen sozialen Verhältnissen, die Mutter arbeitet halbtags als Kassiererin.
Schon im Kindergarten, später auch in der Schule, erfährt Mihambo Alltagsrassismus – und versteht ihn nicht. Erst mit zehn Jahren begreift sie, dass sie „anders“ ist „und dass das tatsächlich einen Unterschied machte“. Die Farbe ihrer Haut ist immer wieder Anlass für Diskriminierungen, die sie prägen und in ihrer Kindheit seelisch deformieren.
Früh entdeckt sie den Sport, erst Ballett und Judo, dann mit acht Jahren die Leichtathletik. Sie fällt durch Begabung auf und spürt früh, dass der Sport eine Möglichkeit zur Selbstfindung ist. Wenn sie an den Start geht, hat sie das Gefühl, „mit sich selbst im Wettkampf zu sein“.
Mihambo ist erfolgreich, schon mit neunzehn startet sie für die Nationalmannschaft. Doch die Wunden der Kindheit sind nicht verheilt, das macht sie deutlich: „Über den Leistungssport hatte ich mein mangelndes Selbstwertgefühl kompensiert.“
Die Stärke des Buches ist das Eingeständnis ihrer Schwäche, an deren Überwindung sie arbeitet – bis heute. Mihambo beschreibt ihr Leben nach den ersten sportlichen Erfolgen als einen Prozess der Selbstfindung. Mühsam muss sie ihr Ich erobern, das lange ein fragiles Gebilde bleibt.
Reisen, meist allein, führen sie an den Amazonas, nach Peru und Thailand, nach Lappland. Immer sucht sie die Begegnung mit fremden Menschen und Kulturen, auch als eine Konfrontation mit sich selbst. In Indien lernt sie die traditionellen Meditationsformen kennen, die sie fordern und innerlich ausrüsten für den Kampf mit den Anforderungen ihres Lebens.
Dann kommen die großen sportlichen Erfolge: zwei Titel als Weltmeisterin, der Olympiasieg 2021 in Tokio. Gerne hätte man hierüber mehr erfahren.
Dennoch ist das Buch mutig, etwa wenn Mihambo über ihre Probleme beim Wettkampf an den Tagen der Menstruation berichtet. Berührend ist es, wenn sie vom Tod ihrer geliebten Großmutter oder über die Demenzerkrankung ihrer Mutter mit gerade einmal sechzig Jahren schreibt. Da ist die Autorin ganz bei sich – als Mensch mit Empathie.
Doch auch als gefeierter Star in den Sportstadien holen sie die Traumata ihrer Kindheit gelegentlich wieder ein; etwa wenn sie im Bus von Neonazis mit der Kopf-ab-Geste kujoniert wird oder, noch im letzten Jahr bei den Euromeisterschaften in München, das N-Wort im Stakkato zugerufen bekommt. Dann ergeht sie sich aber nicht in Larmoyanz, sondern ordnet die Vorfälle in den gesellschaftlichen Kontext ein.
Heute ist Malaika Mihambo eine kritische Athletin, eine eigenständige Frau und zugleich ein Gefühlsmensch mit einem großen Maß an Anteilnahme – auch an gesellschaftlichen Problemen wie dem Umweltschutz; sie studiert Umwelttechnik.
Und Mihambo hat einen Verein gegründet: „Malaikas Herzsprung“, mit dem sie Kinder im Grundschulalter fördert. Paul Frommeyer
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