Biografie über Wolodimir Selenski: Kriegsherr wider Willen
Der Journalist Wojciech Rogacin hat eine gut lesbare Biografie über Wolodimir Selenski geschrieben. Sie bringt die polnische Perspektive ein.
Die Orange Revolution 2004, der Euromaidan 2013/14 mit 130 Toten: Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit 1991 mehrmals Geschichte geschrieben. Doch zynischerweise braucht es erst Russlands barbarischen Angriffskrieg gegen den Nachbarn, um Europas größten Flächenstaat – bis dahin immer noch eine Terra incognita – endlich auch beim westlichen Publikum nachhaltig auf die politische Tagesordnung zu setzen.
Dass das so ist, hat zu einem großen Teil auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zu tun. Noch bei seinem Amtsantritt im Mai 2019 haben viele für den heute 44-jährigen Komiker und politischen Quereinsteiger nur ein müdes Lächeln übrig. Heute ist Selenski der Mann, der in olivgrünen T-Shirts und gleichfarbigen Hosen allabendlich vor die Kameras tritt und auch seine ausländischen Unterstützer*innen nicht schont.
Er brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit, sagt er einmal. Und Selenski ist derjenige, der, wie einem Beitrag der russischsprachigen Webseite Meduza zu entnehmen ist, am 24. Februar 2022 um 6.40 Uhr Ortszeit und damit nur wenige Stunden nach dem Beginn des Krieges den damaligen britischen Regierungschef Boris Johnson anruft und auf Englisch in den Hörer brüllt: „Wir werden kämpfen. Boris, wir werden nicht aufgeben.“
Wojciech Rogacin: „Selenskyj Die Biografie“. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel. Europa Verlag, München 2022, 256 Seiten, 20 Euro
Doch wer ist Selenski wirklich? Eine Antwort darauf versucht Wojciech Rogacin in seinem Buch „Selenskyj. Die Biografie“ zu geben. Der polnische Journalist, Spezialist für den postsowjetischen Raum, Kriegsreporter und Dozent an der Warschauer Universität SWPS im Fachbereich Journalistik, spürt dem Phänomen Selenski bereits seit 2019 nach, wie er in dem einleitenden Kapitel bemerkt.
Wojciech Rogacin: „Selenskyj Die Biografie“. Aus dem Polnischen
von Benjamin Voelkel. Europa Verlag, München 2022, 256 Seiten, 20 Euro
Alle Trümpfe in der Hand
Dort liefert er bereits eine mögliche Erklärung dafür, wie Selenski es vermochte, in eine gänzlich unbekannte Rolle hinein- und über sich hinauszuwachsen – eine Rolle, die er sich so wohl nie vorgestellt hat und freiwillig auch nicht ausgewählt hätte. „Wenn man die zeitgenössische Politik (…) als eine Art Aufführung ansieht, als eine Theaterinszenierung, bei der Darbietung, Narration und eine hervorragende PR untrennbarer Teil des Erfolges sind, so hatte Selenskyj alle Trümpfe in der Hand“, schreibt Rogacin.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die vorliegende Betrachtung ist ein gut lesbarer Text. Dieser holt auch Leser*innen ab, die sich bisher wenig oder gar nicht mit der Ukraine sowie ihrer außen- und innenpolitischen Entwicklung beschäftigt haben.
Zwar macht Rogacin aus seiner Sympathie und Bewunderung für Selenski kein Hehl. Dennoch erliegt er nicht der Versuchung, den ukrainischen Staatschef, der seine Landsleute seit fast sieben Monaten durch einen grausamen Krieg navigiert, zu überhöhen und dabei in schwülstiges Pathos abzugleiten. Das wiederum hebt sich wohltuend von vielen westlichen Medienberichten ab, die den Kriegsherrn wider Willen verklären und dabei bisweilen auch kritische Distanz vermissen lassen.
Ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn verdankt sich dem Umstand, dass Rogacin auch immer wieder die polnische politische Perspektive einbringt. So lässt er mehrmals den ehemaligen sozialdemokratischen Präsidenten Polens, Alexander Kwaśniewski, zu Wort kommen. Dessen Einlassungen fügen dem Gesamtbild des ukrainischen Präsidenten weitere interessante und aufschlussreiche Aspekte hinzu. Kwaśniewski ist bei seiner ersten Wahl zum Staatschef 1995 mit 41 Jahren übrigens genauso alt wie Selenski beim Sprung ins höchste Staatsamt.
Stets loyal
In acht Kapiteln, denen jeweils eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte vorangestellt ist, führt der Autor die Leser*innen gut strukturiert durch die wichtigsten Stationen von Selenskis Leben.
Seine Kindheit und Jugend verbringt Selenski, Sohn jüdischer Eltern, in der ostukrainischen Industriestadt Krywij Rih. Schon damals, so stellt der Autor fest, sei er jemand gewesen, der immer mehr als Gleichaltrige habe erreichen wollen, kein Risiko gescheut habe, aber seiner Gruppe gegenüber stets loyal geblieben sei.
Den ersten Gehversuchen als Kabarettist und Entertainer in Talkshows folgt der Einstieg ins TV-Business, der den Durchbruch bringt. Von da an geht es steil bergauf – trotz mancher Rückschläge. Selenski schafft es spielend, Säle zu füllen, hat die Lacher*innen stets auf seiner Seite und legt dabei auch erstaunliches unternehmerisches Talent an den Tag.
Die populäre Serie „Diener des Volkes“ nimmt Selenskis spätere politische Karriere vorweg. Dort spielt er einen Lehrer, der sich plötzlich im Amt des Präsidenten wiederfindet.
Nicht die erste Wahl
In der Silvesternacht 2018/19 kündigt Selenski seine Kandidatur bei der bevorstehenden Präsidentenwahl an – was die Ukrainer*innen genauso überrascht wie seine Ehefrau Olena. Ihr ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der intime Einblicke ermöglicht und Überraschendes offenbart: Für die First Lady ist die politische Bühne nicht die erste Wahl. Sie tut sich schwer mit ihrer neuen Funktion und agiert lieber im Hintergrund.
2021 ist von der anfänglichen Begeisterung für Selenski nicht mehr viel übrig. Die versprochene Verständigung mit Russland zur Beendigung des Konfliktes in der Ostukraine bleibt aus, das angekündigte Reformprogramm greift nicht. Auch an den Oligarchen beißt sich Selenski die Zähne aus, kurzum: Er ist in der Defensive. Doch dann beginnt der Krieg, der schlagartig alles verändert.
„Selenskyj hat schon den Status als Leader eines zur Niederlage verdammten Landes erlangt, der den ungleichen Kampf zur Verteidigung von Würde und Recht auf ein Leben in Freiheit aufgenommen hat, statt sich unter den russischen Stiefel zu begeben“, schreibt Rogacin. Wie dieser Kampf ausgeht, weiß niemand und auch nicht, welche Rolle Selenski dann spielen wird.
Nur eins steht fest: Wir sollten auf Überraschungen gefasst sein.
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