Bildungsplanung: Auf die Straßenecke genau
Eine Neusser Daten-Firma verspricht, für jedes Haus das soziale Milieu der Bewohner ausweisen zu können. Hamburgs Bildungsbehörde plant offenbar, entschärfte derartige Informationen einzukaufen.
So manchem fiel da die sprichwörtliche Kinnlade runter: Rund 70 Hamburger Behördenmitarbeiter bekamen Ende Oktober von Referenten der Firma Microm Consumer Marketing aus Neuss einen Stadtplan mit vielen bunten Punkten drauf vorgeführt. Diese Punkte markierten soziale Milieus - auf "microgeografischer" Ebene und nach dem Modell der Sinus-Studien. Hell- und dunkelrosa Punkte etwa weisen die eher zur Unterschicht gehörenden "Konsum-Materialisten" und "Hedonisten" nach. Dunkelblau steht für "Konservative", grün für "Postmaterielle" - sprich: Alt-68er.
"Die können für jede Straße und für jede Hausnummer genau sagen, welche Menschen hinter welcher Wohnung vermutet werden", berichtet ein Teilnehmer des Workshops, der sich an Vertreter der Bildungsbehörde und der Bezirke richtete. Die Bildungsbehörde sei "offenbar auf dem Trip, diese Daten zu kaufen, um den Zugang zu bildungsfernen Schichten aufzubrechen", sagt der Mitarbeiter, der seinen Namen nicht nennen möchte.
Das sei offenbar schon beschlossen. Die Sinnhaftigkeit "wurde nicht offen diskutiert". Als Beispiel für den Nutzen habe eine Microm-Mitarbeiterin eine Kita-Erzieherin herangezogen, sagt der Kursteilnehmer: Wenn neue Kinder kämen, könnte sie aus der Wohnadresse schließen, "aus welchem Milieu die Eltern kommen, so dass eine bessere Ansprache möglich sei".
Sinus-Milieus teilen die Bevölkerung in zehn Gruppen auf:
Im alten Modell, das in den Punktgrafiken verwendet wird, gab es Konservative, Etablierte, Postmaterielle, Moderne Performer, Traditionsverwurzelte, DDR-Nostalgische, Bürgerliche Mitte, Experimentalisten, Konsum-Materialisten und Hedonisten.
Im Modell von 2010 fehlen die DDR-Nostalgiker, aus Konsum-Materialisten wurde das Prekariat, Postmaterielle mutierten zu Liberal-Intellektuellen.
Im Internet stellt das Unternehmen sein Angebot vor: "Die Microm-Daten liegen flächendeckend für jedes Haus vor", heißt es. Karten mit einer "microgeografischen" Zuordnung kann dann im Prinzip jeder bestellen, der dafür bezahlt. Daraus lasse sich die Zahl der Espresso-Trinker pro Haus ermitteln, oder auch die Einteilung der Bewohner in "Limbic-Types" wie "Abenteurer", "Disziplinierte" und "Traditionalisten", wie sie in ähnlicher Weise auch die Hamburger Sparkasse bei ihren Kunden vorgenommen hat (taz berichtete).
Für Hamburg finden sich auf der Homepage Karten der beiden Stadtteile Altona und Blankenese. Darauf lassen sich die erwähnten Sinus-Milieus auf die Hausecke genau zuordnen: Demnach wohnen am Fischmarkt "Experimentalisten", am Altonaer Spritzenplatz dagegen die "Postmaterialisten".
Sascha Mertes, zuständiger Teamleiter bei Microm, erklärt der taz, wie die Firma arbeitet: Die Mileus an sich entwickle das Sinus-Institut in Heidelberg (siehe Kasten). Das Institut führe einige hundert qualitative Interviews bei den Interviewten zuhause. Dabei würden auch Fotos gemacht, etwa von Möbeln und Bücherwänden. Liegen Bücher auch mal quer, heiße das: Es wird gelesen. Seien sie ordentlich nach Farbe sortiert, eher nicht.
Im Anschluss, so Mertes weiter, würden 29 Aussagen entwickelt, die für einzelne Milieus prägend seien, etwa: "Ich will Spaß, was morgen passiert, ist mir egal." Diese Sätze habe man dann in "standardisierten Interviews" insgesamt 24.000 Mal abgefragt. Anschließend werde das Vorkommen bestimmter Milieus mit anderen Daten - wie Alter, Wohngegend, Auto-Typ und Konsumvorlieben - "hart vercodet", sagt der Microm-Teamleiter. Dann fange "die Rechnerei an".
Auf der "microgeografischen" Ebene würden immer mindestens fünf Haushalte zu einer Einheit zusammengefasst - "das schreibt der Datenschutz vor". Unschärfen seien möglich, sogar gewollt: "Unsere Leistung ist eine mathematisch, statistische Wahrscheinlichkeit, keine Wahrheit." So werde für jede Einheit die Wahrscheinlichkeit für jedes der zehn Milieus ausgewiesen und am Schluss das "dominante Milieu" bestimmt. Die Gefahr einer Diskriminierung bestehe nur dann, "wenn man falsch mit den Informationen umgeht und nicht versteht, was man damit machen kann", sagt Mertes.
In erster Linie wird diese Methode zur Steuerung von Direkt-Marketing eingesetzt - aber auch im Bildungsmarketing: So hat die Hamburger Volkshochschule (VHS) 2007 im Rahmen eines Modellprojekts anonymisierte Teilnehmerdaten mit den Sinus-Milieus abgleichen lassen. Man könne dieses Instrument auf verschiedene Weisen nutzen, sagt VHS-Sprecherin Antje von Rein: "warm und emphatisch oder ausbeutend". Die VHS habe mit ihrer Hilfe Ankündigungstexte sprachlich geschärft.
Die Bildungsbehörde erklärte am Donnerstag, sie könne Entwarnung geben: Es sei nicht geplant, die Punktgrafiken oder Karten zu verwenden, sagt Sprecherin Brigitte Köhnlein. Das bei der Behörde angesiedelte Projekt "Lernen vor Ort" plane einmalig, Sinus-Daten für die 941 statistischen Gebiete der Stadt anzukaufen. In dem von Bund und EU finanzierten Projekt gehe es darum "zu verstehen, welche Bildungsangebote in welcher Region notwenig sind".
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