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Bildung zu Völkermord an Ar­me­nie­r:in­nenLeerstelle im Lehrplan

Tigran Petrosyan
Kommentar von Tigran Petrosyan

Obwohl Deutschland den Genozid an den Ar­me­nie­r:in­nen anerkannte, wird er in den Schulen kaum erwähnt. Aus der Vergangenheit zu lernen, ist gerade heute wichtig.

Besucher im Bundestag bei der Abstimmung zu Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern im Juni 2016 Foto: CommonLens/imago

A m 24. April 1915 lassen die türkischen Behörden in Istanbul die gesamte armenische Führungsschicht festnehmen und ermorden. Es ist der Beginn der Vertreibung und systematisch geplanten Vernichtung von etwa 1,5 Millionen Ar­me­nie­r:in­nen durch das Osmanische Reich. Deutschland trägt eine historische Mitverantwortung an dem Genozid, aufgrund seiner Vergangenheit als militärischer Verbündeter des Osmanischen Reiches im ersten Weltkrieg.

„Hart, aber nützlich“, heißt es damals in der deutschen Regierung zum Massenmord an den christlichen Armenier:innen. Die Türkei leugnet diesen Völkermord bis heute. Demgegenüber haben mittlerweile über 30 Länder die Massaker an den Ar­me­nie­r:in­nen als Völkermord anerkannt. 2016 verabschiedet auch der Bundestag eine entsprechende Resolution.

Dabei stellte dieser damals fest: „Heute kommt schulischer, universitärer und politischer Bildung in Deutschland die Aufgabe zu, die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den Lehrplänen und -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu vermitteln.“ Seitdem ist kaum etwas passiert: Der Völkermord an den Ar­me­nie­r:in­nen ist nach wie vor in keinem Bundesland obligatorischer Lehrstoff.

Nur im Lehrplan Brandenburgs oder Sachsen-Anhalt taucht das Thema als mögliches Fallbeispiel für Völkermord und Massengewalt auf. Ein Grund dafür soll sein, dass Leh­re­r:in­nen keine Zeit und Kapazitäten hätten. Ein weiterer: Türkischstämmige Schü­le­r:in­nen und deren Eltern protestierten immer wieder gegen das Thema. Um diesen Konflikt zu vermeiden, lassen einige Lehrer:in­nen es lieber ganz weg.

Dabei könnte der Unterricht über den Völkermord dazu beitragen, dass Schü­le­r:in­nen die Konsequenzen von Hass und Vorurteilen leichter erkennen – und sich deshalb eher für eine gerechtere postmigrantische Gesellschaft in Deutschland einsetzen. Denn das Thema „Genozid“ bleibt, etwa angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine, aktuell – und damit auch, aus der Vergangenheit zu lernen.

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Tigran Petrosyan
Leiter Osteuropa Projekte
Petrosyan hat in Jerewan, Mainz und Berlin Orientalistik; Geschichts- und Kulturwissenschaften studiert und in Berlin über Integration, Migration und Medienwahrnehmung promoviert. Er schreibt vor allem für die taz, ZEIT-ONLINE und für das Journal von Amnesty International. Er ist als Reporter in Osteuropa unterwegs und leitet die Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung. Herausgeber des Buches "Krieg und Frieden. Ein Tagebuch" (September 2022).
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8 Kommentare

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  • Der Armenier-Genozid ist viel zu lange in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland marginalisiert worden und hätte definitiv einen Platz im deutschen Geschichtsunterricht verdient. Gerade wenn man auch die Verstrickung des deutschen Kaiserreichs in dieses Verbrechen bedenkt. Allerdings sehe ich schwarz, was die tatsächlichen Chancen einer Aufarbeitung im deutschen Geschichtsunterricht angeht.

    Zum einen, wenn ich sehe, wie sich aktuell ausgerechnet sozialdemokratische Politiker türkischen Nationalisten anbiedern.

    www.welt.de/region...gegen-Mahnmal.html

    Und zum andern, wenn man bedenkt, wie es die Deutschen bis heute nicht einmal geschafft haben, wenigstens ihre eigenen Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Selbst das von der SS verübte Massaker an bis zu 200.000 polnischen Zivilisten in Warschau 1944 wird in den meisten deutschen Geschichtsschulbüchern nicht mal erwähnt.

    taz.de/Deutsch-pol...iehungen/!5963398/

    Die deutsche Erinnerungskultur ist allgemein von erschütternder Ignoranz geprägt, und es besteht wenig Hoffnung, dass sich das bald ändern wird.

  • Das Thema Genozide (nicht allein beschränkt auf den Holocaust) sollte auf jeden Fall einen festen Platz in den Lehrplänen (Geschichte/Geografie) der Länder haben. Aber ist es angesichts der Tatsache, dass Unterrichtsstoff nicht beliebig ausgeweitet werden kann, nicht sinnvoller, dabei primär zeitlich näherliegende Ereignisse aufzugreifen (Ruanda, Bosnien/Srebrenica z. B.), die deutlich machen, wie aktuell das Problem immer noch ist? Zudem sind die Bezüge zwischen den Ereignissen in Srebrenica und z. B. Russlands Krieg in der Ukraine auch sehr viel direkter und somit einfacher zu erkennen/verstehen.

    • @Al Dente:

      Der Völkermord an den Armeniern ist aktueller, als viele denken. Er reiht sich ein in eine Geschichte der systematischen Verfolgung aller religiösen Minderheiten in der modernen Türkei. Dem Armenier-Genozid und den Massenmorden an der griechischen Minderheit folgten antisemitische Pogrome in Thrakien 1934, der antichristliche und antisemitische Pogrom von Istanbul 1955, Massaker an Aleviten 1978 und 1980 sowie der ebenfalls gegen Aleviten gerichtete Brandanschlag von Sivas 1993.

      Sollte es demnächst zu einem Großangriff Aserbaidschans auf Armenien kommen, könnte das Thema sogar brandaktuell werden.

  • Ein solcher Beschluss des Bundestages hat überhaupt keine echte Außenwirkung. Hinzu kommt, der Bund hat überhaupt keine Kompetenz im schulischen Bildungsbereich, diese liegt bei den Ländern.

    Betrachtet man die geschichtliche Relevanz des Themas gibt es überhaupt keinen Grund, dieses in die Lehrpläne aufzunehmen, zumal gerade diese Zeit mit anderen Themen vollgestopft ist.

    • @DiMa:

      Wahrscheinlich war mein Post noch nicht zu lesen, oder?

      • @Janix:

        Nicht alles was Herr Hitler gesagt haben soll führt zu einer historischen Relevanz. Selbst der entsprechende Eintrag über die Rede enthält keinen Bezug zu Armenien.

        Ich sehe es wie Al Dente, im Zusammenhang mit der Thematik Völkermord kann es gerne behandelt und entsprechend einordnen werden, eine zwingende Notwendigkeit sehe ich dagegen nicht.

        • @DiMa:

          Doch, doch. Hitler glaubte, dass die Mordtaten, die er plante, irgendwann ebenso einer Vergessenheit anheim fielen. "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?", fragte er am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg. Wir wissen, was die folgenden Jahre brachten.

          Hier hat eine Regierung beschlossen, sie müsse einen "Nationalstaat" mitteleuropäischen Vorbilds schaffen, indem sie Nicht-Sunniten, Nicht-"Türken" organisiert tötet oder verschleppt. Das Muster taucht hier zum ersten Mal auf und prägt das 20. Jh.



          Wer davon nichts weiß, versteht deutlich weniger.



          Wer davon weiß, lässt sich weniger von "National-Einheits"-Propheten einwickeln.



          Wir brauchen mehr geschichtliches und politisches Wissen, nicht weniger.

  • So wie Information über die Schoah nicht jeden heutigen Deutschen m/w/d abwertet, ist Information über eine Vorgängeraktion, nämlich die Ausgrenzung und Tötung von Armeniern im großen Stil, etwas gegen heutige Menschen, die sich als Türken sehen.

    Man kann es nicht häufig genug wiederholen: Hitler persönlich meinte: wer denn damals noch von den Armeniern spräche. Die Aktion war ein Vorbild für ihn. Sei sie für uns hingegen eine Mahnung. Dafür müssen wir davon wissen.

    Lesetipp: Franz Werfel, Vierzig Tage des Mussadagh, literarisch, aber sehr nah an der Realität.