piwik no script img

Bildung anders denkenRaus aus dem Dauerstress

Gastkommentar von Nicole Gohlke

Das existierende Schulsystem erzeugt Frust und Dauerstress bei Schülern wie Lehrern. Höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel!

Erstklässler auf dem Weg in ihr voraussichtlich volles Klassenzimmer Foto: Bernd Thissen/dpa

A lle Beteiligten im System Schule sind unzufrieden: Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern. Der Grund dafür ist ein auf Leistung getrimmtes, selektierendes Schulsystem, in dem Dauerstress der Normalzustand ist. Es wird gebüffelt, getestet, geprüft, was das Zeug hält – und trotzdem zeigen die Vergleichstests immer wieder: Vielen Grund­schü­le­r*in­nen fehlen Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Tausende junge Menschen verlassen die Schule ohne Abschluss, psychische Erkrankungen nehmen zu.

Nicole Gohlke

ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag und Sprecherin für Bildung und Wissenschaft.

Bei den Lehrkräften dasselbe Drama: ein immer größeres Arbeitspensum, mehr Unterrichtsstoff, mehr Verwaltung, mehr IT, mehr Kinder, größere Klassen – und das mit einem halb besetzten Kollegium: Das bringt jede noch so engagierte Lehrkraft an ihre Grenzen.

Die jahrzehntelange chronische Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungssektors und ein dramatischer Fachkräftemangel prallen auf ein strukturell völlig veraltetes, hierarchisches und selektives Schulsystem. Damit muss endlich Schluss sein! Wir dürfen bei der Herstellung einer modernen, inklusiven und demokratischen Lernkultur, von Bildungsgerechtigkeit und Mobilität nicht noch mehr Zeit verlieren!

Dafür muss Schule einen grundsätzlich neuen Weg einschlagen: Ohne permanenten Stress, ohne Angst und Frust. Ein Paradigmenwechsel weg vom Selektieren hin zum Fördern, vom Beschämen zum Stärken. Es braucht andere moderne und demokratische Beurteilungsmaßstäbe als das enge Notenkorsett und die ewige Testerei; das Sitzenbleiben und Abschulen muss überwunden werden; die Lehrkräfte brauchen wieder Zeit, Inhalte zu vermitteln, statt sich mit Verwaltung herumzuschlagen; das Lernen gehört in die Schule, nicht nach Hause.

Das Konzept „Eine Schule für alle“ setzt auf individuelles, selbstbestimmtes Lernen, ist inklusiv und demokratisch. Andere Länder sind da viel weiter. Sie praktizieren längeres gemeinsames Lernen ohne das Aussortieren nach der Grundschule. Wir müssten uns nur auch endlich mal trauen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Auch ich bin für eine radikale Änderung des Schulsystems. Allerdings widerspreche ich in mehreren Punkten:

    Die Klassen sind nicht größer, sondern kleiner geworden.

    Das Versagen bei den Grundkompetenzen findet vor der "Selektion" statt, nämlich am Ende der 4. Klasse.

    Individuelles Lernen vergrößert eher die bestehenden Unterschiede - auch wenn alle Schüler stärker als jetzt davon profitieren werden.

    Die Leistung ist nicht das Problem, sondern die erzwungene Leistung. Leistung, die selbstbestimmt erfolgt, die auf Gestaltung und erlebtem Kompetenzaufbau beruht, die mit Freude und Wachstum verbunden ist, ist genau das, was Kinder brauchen.

    Auch bei den Schülern ohne Schulabschluss bleibt unerwähnt, dass etwa die Hälfte davon Schüler mit Förderschwerpunkt sind. Wie viele Kinder, die erst nach dem Grundschulalter nach Deutschland gekommen sind, befinden sich unter dieser Zahl? Diese Kinder sollen in 2 Jahren Deutsch lernen und dann mal eben 7,8 oder 9 Jahre deutsche Schulbildung nachholen.

    Ich selber engagiere mich für eine radikale Änderung, gleichzeitig denke ich, dass mehr Differenzieren und stichhaltige Argumente nötig sind, um den Rest der Gesellschaft zu überzeugen.

    Das Schlimmste, was den Schulen passieren konnte, ist, dass die Links-Partei jetzt die Abschaffung der Noten fordert. Das führt dazu, dass dieses wichtige Ziel an Akzeptanz verlieren wird - wie der Klimaschutz durch die Letzte Generation.

  • "Höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel!"

    Höchste Zeit war es schon vor 20 oder 30 Jahren. Da konnte schon mit einfachen Grundkenntnissen der Mathematik, mit dem Dreisatz ausgerechnet werden, dass unser Schulsystem kollabieren wird, wenn nichts geschieht. Wir haben ein extrem selektives Schulsystem, von Chancengleichheit kann keine Rede sein. Es hat nie den Willen gegeben, das Bildungssystem fit zu machen. Ich erinnere genau, wie die damalige rotgrüne Landesregierung in NRW die Wahlen deshalb verlor, weil die von den Grünen verantwortete Bildungspolitik völlig versagte. Wie schon ihre Vorgängerinnen war sie nicht in der Lage, nur ansatzweise eine Problemlösung anzubieten. Lehrerinnen und Lehrer werden schamlos verschlissen. Und viele Kollegien überfordern sich gemeinsam, denn immerhin geht es um das wertvollste Gut, nämlich Chancengleichheit. Besonders verwerflich ist die Tatsache, dass genügend Geld für Militarisierung vorhanden ist und es keine bundespolitisch organisierte Bildungsoffensive gibt. Mit Jagdbombern, die auch Atomwaffen tragen können, wird die Situation noch verschärft, denn Rüstungskosten schmälern automatisch den Sozial- und Bildungsetat und haben selbst wirtschaftlich keinen innovativen Effekt.

  • Schulsport in der Krise:



    /



    www.youtube.com/watch?v=J2U0FgUtxR4



    /



    Das ist chronisch, nicht akut.



    Was lange währt, wird nicht mehr gut.