Bilder aus Afghanistan: Was wir sehen und was nicht
Der Krieg in Afghanistan produziert schockierende Bilder. Wir müssen auch darauf achten, was und wen sie nicht abbilden.
A ls ich diese Woche an meinem Handy klebte, um die Nachrichten aus Afghanistan zu verfolgen, musste ich an Susan Sontags Essay „Das Leiden der anderen betrachten“ denken. Sie schreibt darin über das Privileg derer, die einen Krieg nicht selbst erleben, sondern durch Bilder erfahren. Der Text ist von 2003. Inzwischen, 18 Jahre später, kommen die Bilder viel schneller, aus mehr Perspektiven. Aber auch heute gilt, worauf Sontag damals hinwies: Die Drastik der Kriegsbilder darf nicht davon ablenken, was wir nicht sehen. Wessen Leid nicht dokumentiert wird.
Wir sehen Menschenmassen am Kabuler Flughafen, kaum Individuen. Wir sehen Männer, kaum Frauen. Wir sehen Jugendliche, die lieber von einem Flugzeug aus in den sicheren Tod stürzen, als in Afghanistan zu bleiben. Zwei schwarze Punkte am Himmel. Brüder, 16 und 17 Jahre alt, wird vermutet. Was wir nicht sehen: Die, die zurückgelassen wurden. Die zu Hause blieben, weil sie zu alt oder krank sind. Die zu große Angst hatten, die sich verstecken und in ihren Wohnzimmern verzweifeln. In den Nachrichten spricht manchmal einer oder eine von ihnen, das Gesicht zum eigenen Schutz verpixelt.
Wir sehen Menschen in Evakuierungsflugzeugen. Auch hier vor allem junge Männer. Braune Haut, schwarze Haare. Wie viele in Europa erkennen in ihnen nicht mehr als eine Bedrohung? Und wie schamlos sind die, die ihnen vorwerfen, sich nicht in den Kampf gegen die Taliban zu stürzen, den die Nato selbst als aussichtslos ansah?
Mauern der Bürokratie und tödliches Versagen
In den Flugzeugen sitzen die wenigen Glücklichen. Vom Schicksal der allermeisten, die es nicht herausgeschafft haben, werden wir nie erfahren. Und auch die Gesichter derjenigen, die in ein paar Wochen oder Monaten auf dem Mittelmeer von Frontex zurückgedrängt werden oder für Jahre in Flüchtlingslagern festhängen, werden wir kaum sehen. Es wird wieder die Rede von einer Welle sein. Als hätte das Meer das alles zu verschulden.
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Wir sehen Talibankämpfer mit Kalaschnikows im Präsidentenpalast, in den Straßen von Kabul. Wir sehen ihren Versuch, eine Normalität zu etablieren, der Welt zu zeigen, dass sie in der Lage sind, ein Land zu regieren. Und die ersten Zuschauer*innen dieses Krieges fallen darauf rein, schauen weg, wird schon gut gehen. Wir sehen Straßenaufnahmen ohne weibliche Gesichter. Burkas, wenn überhaupt. Und dann, plötzlich, eine mutige Demonstration, am Tag der Unabhängigkeit. Wann waren die Afghan*innen zuletzt unabhängig?
Susan Sontag schreibt in ihrem Essay, dass „wir“ nicht vergessen dürfen, dass auch „sie“ sehen. Was sehen sie? Die Mauern der Bürokratie, tödliches Versagen, das inzwischen „Managementfehler“ genannt wird. Die USA und Europa, die sie verraten haben und über Nacht abgezogen sind. China und Russland, die sich bereit machen.
Mitgefühl kann einlullen
Mitleid ist ein volatiles Gefühl, schreibt Sontag. Ist ein Krieg zu verworren, der Konflikt scheinbar nicht zu lösen, wenden sich viele ab. Wenn es nichts gibt, das „wir“ tun können, und nichts, das „sie“ tun können, werden wir zynisch, gelangweilt, apathisch. Passivität lässt abstumpfen und Nähe sich einzig über Mitgefühl herstellen. So lange wir mitfühlen, stehen wir auf der richtigen Seite, oder?
Mitgefühl heißt Unschuld heißt Machtlosigkeit. Mitgefühl kann einlullen und davon ablenken, dass unser Wohl mit dem Leid der anderen verbunden ist. Viele Deutsche haben sich gerade erst wieder an den Krieg in Afghanistan erinnert. Dabei ist und war Deutschland beteiligt. Mitgefühl reicht nicht. Hinsehen, auch nachdem das letzte Evakuierungsflugzeug abgehoben ist, ist das Mindeste.
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