Bierkonsum verändert sich: Selbstoptimierung oder Selbstliebe?
Ein Frischgezapftes schmeckt im Frühling gut. Immer mehr Brauereien bieten eine alkoholfreie Variante an. Unser Autor feiert das.
I n München findet im Moment eine kleine Revolution statt, besser gesagt eine Biergarten-Revolution. Nach 38 Jahren ohne Veränderung im Biersortiment bringt die Augustiner Brauerei, die älteste der Bayerischen Landeshauptstadt, ein neues Produkt auf den Markt: ein alkoholfreies Helles. Endlich ist das Traditionsunternehmen also auch im 21. Jahrhundert angekommen.
A very warm welcome!
Schon sei Jahrzehnten geht der Alkohol- und vor allem der Bierkonsum in Deutschland zurück. Während die Deutschen im Jahr 1994 noch 107,4 Hektoliter Bier versoffen, waren es im Jahr 2023 nur noch 69,3. Was für manche den Verlust der deutschen Hochkultur bedeuten mag, ist vielmehr ein Zeichen, dass wir als Trinkernation aus unserem kollektiven Alkoholismus ausbrechen. Deutschland wird langsam nüchtern und das auch dank des alkoholfreien Biers.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Als ich im vergangenen Jahr auf den Trend aufstieg und einen sober october einlegte, stand ich vor einem Problem: Was trinke ich denn jetzt bei einem Kneipenabend mit Freund:innen?
Cola?
Eine geht vielleicht, aber ab zwei Colas geht mein Argument flöten, ich lebe so gesünder als mit Alkohol.
Also einfach Wasser?
Keine Chance, ich sehe es nicht ein, 3,50 Euro für etwas zu bezahlen, das man auch umsonst haben kann. Da verschwinde ich lieber alle 15 Minuten auf dem Klo und trinke aus dem Wasserhahn. Aber das ist nicht gerade gesellig, also keine Option. Genauso wenig wie gar nichts trinken. In einer Kneipe brauche ich einfach ein Getränk in der Hand, alles andere fühlt sich falsch an. Deshalb greife ich seit einiger Zeit öfter mal zum alkoholfreien Bier. Eine gute Alternative, wie immer mehr Menschen finden: Es mag zwar nicht das aufregendste Getränk sein, aber it gets the job done.
Mit alkoholfreiem Bier kann ich im Genuss des Feierabendbieres schwelgen, ohne mich schlecht fühlen zu müssen. Oder bin wenigstens nicht die komische Person, die stundenlang ohne Getränk in der Kneipe sitzt. Außerdem gibt's keinen Schädel. Selbst nach dem Sport kann ich es ohne schlechtes Gewissen genießen. Ein herkömmliches Bier im Anschluss wäre ein Verrat an den gerade eben verbrannten Kalorien. Ein alkoholfreies Weißbier hingegen teleportiert einen direkt auf eine Alm in den Alpen nach einer langen Wanderung, man fühlt sich isotonisch anstatt selbstzerstörerisch.
Klar, hin und wieder macht so ein richtig schöner Rausch schon Spaß. Aber eben nur, wenn man ihn nicht mehrmals die Woche hat. Dann hat man nämlich einfach ein Problem.
Es ist doch gut, wenn wir mehr auf uns achten. Alkoholfreies Bier trinken ist keine Selbstoptimierung, sondern Selbstliebe! Nicht nur der Alkoholkonsum geht zurück, die Deutschen rauchen auch weniger und ernähren sich bewusster. Das heißt übrigens nicht, dass wir langweiliger werden. Während das Saufen besonders bei jungen Menschen an Reiz verliert, greifen mehr von ihnen zu anderen Substanzen, wie etwa Cannabis.
Dass man nicht mehr als Spaßbremse gilt, wenn man sich an einem Dienstagabend keine fünf Bier reinstellen will, kann nur als Gewinn gewertet werden.
Und an die Grantler:innen: Auch das Geschmacksargument gilt nicht mehr. Mittlerweile schmecken die meisten alkoholfreien Alternativen genauso gut wie ihre Vorbilder. Sogar Wein, Sekt und Spirituosen gibt es heutzutage ohne Umdrehungen. Euch gehen langsam die Ausreden aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus