piwik no script img

Bewohnbares KunstprojektDer Parasit vom Dach

Mit einer illegal auf einem Dach errichteten Hütte wollen zwei Künstler „die Häuser symbolisch zurückholen“. Wer will, kann dort mal probewohnen

Über den Dächern Berlins: der Parasit auf seinem Wirt Foto: Christian Mang

Irgendwo in Berlin in einem typischen Berliner Wohnhaus, das bis jetzt von der Gentrifizierung verschont blieb, steigt Jakob Wirth durch das alte Treppenhaus nach oben. Auf dem Weg knarzen die Stufen unter seinen Tritten. Mit einem kleinen Trick löst er das Türschloss zum Dachboden. Stickig und dunkel ist es hier; in einer Ecke stehen alte Möbel und leere Flaschen. Die Luft ist dick und ein etwas modriger Geruch steigt einem in die Nase. Wirth will noch weiter hinauf. Eine wackelige Holzleiter bringt ihn zur Dachluke.

Oben angekommen, zeigt sich, was der Künstler und Soziologiestudent Jacob Wirth und sein Kollege Alexander Zakharov (der seinen richtigen Namen nicht veröffentlichen will) in zwei bis drei Wochen Arbeit zusammenwerkelten und schließlich auf das Dach des Wohnhauses verfrachteten. Von der Straße aus kaum zu sehen, blitzt es einem zwischen Schornsteinen entgegen: ein gänzlich verspiegeltes kleines Häuschen zwischen den Dachfirsten.

Schon seit gut drei Wochen blickt das „Penthaus à la Parasit“ über die Stadt. „Ich hatte gedacht, dass wir nach drei, vier Tagen ein anderes Dach suchen müssten“, erklärt Wirth, der es sich im Schatten der fünfeckigen Hütte bequem gemacht hat. Denn für das teils geförderte Kunstprojekt haben die beiden weder eine Genehmigung noch eine Erlaubnis. Aufgrund der gesetzlich prekären Lage will Wirth allerdings keine weiteren Informationen zu der Herkunft der Fördermittel geben. Das Häuschen ist nicht nur eine von Wirths „künstlerischen Interventionen, die zwischen Aktivismus und Kunst liegen“, wie er selbst es beschreibt, sondern in gewissem Umfang bewohnbar. Jetzt, nach drei Wochen, sei die Zeit reif, um anderen das Wohnen darin zu ermöglichen, so Wirth.

Ein Blick in das Innere des Holzkonstruktes offenbart ein Bett, das sich genau zwischen die äußersten Ecken des Innenraums und direkt unter das einzige Fenster schmiegt. Links stehen ein Tisch und ein altertümlich anmutender Hocker, rechts findet sich ein kleines Regal. Daneben eine Flasche mit Propangas, die die mobilen Herdplatten versorgt. Ansonsten findet sich in den Ablagen alles, was man als Grundversorgung braucht: Topf, Pfanne, Kaffeekanne, Eier, Nudeln, frisches Obst und unter anderem ein Eimer Sägespäne. Die Holzreste sind allerdings nicht zum Essen gedacht, sondern befüllen die Toilette, die außerhalb des Häuschen neben den Holzplanken, die eine Art Terrasse bilden, steht.

„Ein Rückzugsraum, ein Freiraum“

Auch wenn man es hier, trotz einer Fläche von gerade einmal vier Quadratmetern, durchaus länger aushalten könnte, macht Wirth direkt klar, dass er und sein Kollege selbst diese Idee „nicht als eine strukturelle Lösung für die Wohnraumprobleme sehen“. Es ginge viel mehr um Sichtbarmachung der Grenzen und darum, sich in einer Zeit der Gentrifizierung und Verdrängung „die Häuser symbolisch zurückzuholen“.

Für Wirth, der nach eigener Aussage die letzten acht Jahre nie in normalen kommerziellen Wohnverhältnissen gelebt hat, ist es so etwas wie „ein Rückzugraum, ein Freiraum“ oder auch ein „Ruhepol“. Diese Freiheit oder „Entrückung“ wie er es gerne nennt, ist auf dem Dach beinahe spürbar. In jede Richtung blickt man über die roten Dächer der Stadt, die in unregelmäßigen Abständen durch die leuchtend grünen Kronen der unterschiedlichsten Bäume unterbrochen werden. Menschen sieht man keine, nur hören kann man ihre Rufe, Unterhaltungen und ihr Gelächter aus den Schluchten. Einzige Begleiter an diesem einsamen Ort sind die Tauben, die sich hin und wieder auf den Schornsteinen oder Antennen ringsherum niederlassen.

Der Parasit ist schwer kontrollierbar, da er sich einfach einen neuen Wirt suchen kann

Wie deplatziert dieses Fünfeck zwischen den Schornsteinen wirkt, wird deutlich, wenn man den Blick zwei Dächer weiter schweifen lässt. Ein Wintergarten und eine grüner Balkon offenbaren ein Penthouse im klassischen Sinn: eine wohlgeplante Luxuswohnung mit bester Aussicht, Platz und Sonnenlicht in einem völlig zugebauten Stadtgebiet. Dem zum Trotz fügt sich das Dachappartement tadellos in die Szenerie des Großstadtdschungels. Das silberne Haus hingegen ist ein Makel im rot-grünen Schachbrett der Dächer und Bäume. Beinahe wie ein Leberfleck – oder eben ein Parasit, der sich die sonst unbenutzte Fläche zu eigen macht.

Der Vorteil des parasitären Lebens sei genau wie bei dem Häuschen die „extrem flexible Struktur“, wie Wirth es beschreibt. Eigentlich befinde man sich hier schon im Bereich des Hausfriedensbruchs, aber es sei „wahnsinnig schwer kontrollierbar“, da sich der Parasit einfach einen neuen Wirt suchen könne. Am schönsten wäre es für ihn, wenn dieses Projekt kein Einzelfall bliebe: „Wenn plötzlich auf allen Häuser, die gekauft werden, am nächsten Tag überall solche Häuschen stehen würden.“ Solange das „Penthaus à la Parasit“ noch an diesem Ort steht, sei ein weiterer Schritt geplant, bei dem „noch mal versucht wird, es ein bisschen auf die Spitze zu treiben“, so Wirth. Wie genau diese Aktion aussehen sollte, wollte er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch im Dunkeln lassen.

Eine nächtliche Odyssee

Ablenkung braucht man als Bewohner des Parasiten kaum. Wenn sich die Nacht über Berlin legt, zeigt sich der wunderbare Ausblick vom Dach des Wohnhauses auf die im violetten Licht des Abendrotes verschwindenden Spitzen der umliegenden Gebäude. Während das Licht der Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet, fährt das Leben in die kleineren Lichter ringsherum in den Schluchten der Straßen. Der einsame Bewohner des parasitären Penthouses ist wie der stille Beobachter oder der Erzähler vieler kleiner Geschichten, die sich in der Stadt unter ihm auftun.

Jedes erleuchtete Fenster ist ein Puppentheater oder ein Schattenspiel. Von der Straßenseite aus kriecht der Geruch von frisch Gebackenem die Wand des Hauses empor und mischt sich mit dem strengeren Geruch gebratener Fischstäbchen aus dem Innenhof. Den Abend lang präsentieren sich immer neue kleine Geschichten, während andere zu Ende gehen, bis kurz nach Mitternacht auch die letzten Lichter ausgehen.

Am Ende der nächtlichen Odyssee taucht Wirth wieder auf. Bepackt mit einem üppigen Frühstück klettert er durch die Dachluke. Gestärkt und ausgeruht geht es dann den Weg wieder hinab. Die wackelige Leiter hinunter in den nicht mehr so stickigen Dachboden, durch die alte Tür mit austricksbarem Schloss zum knarzenden Treppenhaus. Ein letzter Blick von der Straße auf die glänzende Spitze des „Penthaus à la Parasit“, von der niemand sagen kann, wie lange sie hier noch zu sehen sein wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!