Bewegungsforscher über Klimaprotest: „Gandhi war auch im Hungerstreik“
Klimaaktivist:innen hungern seit drei Wochen. Protestforscher Dieter Rucht findet die Aktion trotz historischer Vorbilder nicht aussichtsreich.
![Zwei Klimaaktivisten und eine Klimaaktivistin im Hungerstreik Zwei Klimaaktivisten und eine Klimaaktivistin im Hungerstreik](https://taz.de/picture/5112949/14/Klima-Hungerstreik-Bundestagswahl-1.jpeg)
taz: Herr Rucht, die Hungerstreikenden im Berliner Regierungsviertel fordern ein Gespräch mit den Kanzlerkandidat:innen und deren Versprechen, im Falle ihrer Wahl einen Klimabürgerrat einzurichten. Überrascht Sie die Diskrepanz zwischen der extremen Protestform und den gemäßigten Forderungen?
Dieter Rucht: Ja, die überrascht mich. Wenn man glaubt, man müsse in den Hungerstreik gehen, dann muss man doch auch substanzielle Forderungen stellen. Hier sind die Forderungen aber nur formaler Art.
Immerhin führt man damit den Vorwurf ad absurdum, die eigenen Vorstellungen durch den Hungerstreik moralisch erpressen zu wollen, also undemokratisch zu sein.
Von Erpressung würde ich sowieso nicht sprechen. Dafür müsste ein nennenswerter Schaden auf der gegnerischen Seite eintreten, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden. Das halte ich hier nicht für gegeben. Aber so ein Bürgerrat bleibt ein Beteiligungsformat – das macht die Idee nicht schlecht, aber diese Gremien haben keine Entscheidungsmacht.
Halten Sie es für aussichtsreich, dass der Hungerstreik sein Ziel erreicht?
Jetzt im Vorfeld der Wahl den Kanzlerkandidat:innen die äußeren Bedingungen des Gesprächs zu diktieren und dabei auf Zugeständnisse zu hoffen, halte ich eher für naiv.
Kann man aus sozialwissenschaftlicher Sicht Kriterien ausmachen, wann Hungerstreiks erfolgreich sind?
Was? Seit dem 30. August befindet sich eine Gruppe von Klimaaktivist:innen im Berliner Regierungsviertel im Hungerstreik. Die Initiative nennt sich „Hungerstreik der letzten Generation“.
Wozu? Die Protestierenden fordern ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) sowie Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (Grüne) am Donnerstag um 19 Uhr, also noch vor der Bundestagswahl. Zudem verlangen sie einen Klimabürgerrat, der Empfehlungen für ein Sofortprogramm ausarbeiten soll.
Reaktion? Baerbock, Scholz und Laschet haben den Streikenden vergangene Woche gemeinsam übermitteln lassen, sie wären „einzeln, persönlich und nicht öffentlich – nach der Wahl“ zu einem Gespräch bereit. Sie, die Bundesregierung, aber auch Greenpeace und der DNR appellierten an die Aktivist:innen, den Streik aufzugeben.
Und nun? Wenn der Donnerstagtermin verstreicht, wollen einige der Hungerstreikenden auch keine Flüssigkeit mehr zu sich nehmen, die anderen den Streik beenden.
Eindeutige Kriterien gibt es aus meiner Sicht nicht. Aber natürlich gab es schon erfolgreiche Hungerstreiks. Der größte, der mir einfällt, ist der Hungerstreik kalifornischer Gefängnisinsassen gegen Isolationshaft im Jahr 2013. Daran beteiligten sich über einen Zeitraum von zwei Monaten 30.000 Menschen. Die Behörden reagierten.
Und bei komplexen gesellschaftlichen Fragen wie der Klimakrise?
Gandhi war mehrfach im Hungerstreik. Aber er hat eben auch andere Aktionen genutzt, vor allem Aktionen des zivilen Ungehorsams. Da einen konkreten Anteil des Hungerstreiks am Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien auszumachen, ist schwierig.
Aber können Sie denn auch die Verzweiflung einer Generation verstehen, die im Klimawandel aufgewachsen ist und in ihrer Lebenszeit extreme Einschränkungen von Freiheit und Sicherheit durch diese Krise zu befürchten hat?
Natürlich, aber das Repertoire an anderen Protest- und Widerstandsmöglichkeiten ist bei Weitem noch nicht ausgereizt. Damit meine ich nicht nur fröhlich-freundliche Straßenproteste, sondern auch zivilen Ungehorsam. Sowohl in Qualität als auch in Quantität ist das Spektrum da noch nicht ausgeschöpft.
Sollte die Klimabewegung von symbolischen Aktionen des zivilen Ungehorsams – etwa der Besetzung eines Kohletagebaus – zu solchen Protesten übergehen, die praktische Auswirkungen haben?
Ja, es gibt Protestformen, mit denen man die Routinen des Alltags stört. Und wenn man sagt: Wir haben das versucht, da kommen nicht genug Leute – dann muss man es erst mal anders versuchen.
Das heißt im Prinzip, dass am besten Fridays for Future als große Bewegung mit riesigem Rückhalt die Autobahnen blockieren sollte?
Fridays for Future ist diesen Schritt des zivilen Ungehorsams über den Schulstreik hinaus bisher nicht gegangen. Das könnte sich allmählich ändern. Man muss dabei aber sehr darauf achten, dass man das Gros der Bevölkerung nicht gegen sich aufbringt, sondern vielmehr Verständnis weckt. Es kommt auf die Kommunikation mit der Öffentlichkeit an.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau
Falsche Kritik an Grenzplänen
Es geht nicht um Machbarkeit