Bevölkerungs-Boom im Niger: Pillenversteck im Hirsesack
Kein Land wächst so rasant wie der Niger. Das Problem: Die Infrastruktur wächst nicht mit. Doch Verhütung ist in dem Sahelstaat noch immer verpönt.
Die Zeichnung soll ihr und der nichtstaatlichen Organisation Animas-Sutura, die sich für Familiengesundheit einsetzt, helfen, Familienplanung populär zu machen. Die Frau mit dem roten Schleier lächelt und raschelt mit der Schachtel. In ihr befindet sich die Antibabypille für drei Monate. Für Abdoulaye ist sie eine wichtige Methode, um etwas gegen die rasant wachsende Bevölkerung in ihrem Heimatland zu unternehmen.
Vermutlich wächst der Sahel-Staat so schnell wie kein zweiter auf der Welt. Verschiedene Untersuchungen gehen von jährlich 3,9 Prozent aus. Vor 49 Jahren lebten noch 3,5 Millionen Menschen in dem Land. Inoffiziell geht man heute bereits von etwa 20 Millionen aus. Bei einer Geburtenrate von durchschnittlich 7,6 Kindern pro Frau ist die Tendenz rasant steigend.
Das Problem ist nur, dass sonst nichts mitwächst: Weder werden neue Schulen gebaut noch Krankenhäuser. Auch groß angelegte Ausbildungsprogramme gibt es nicht, stattdessen jede Menge negativer Zahlen. Im aktuellen Entwicklungsindex der Vereinten Nationen ist der Niger Schlusslicht. Es lassen sich zahlreiche andere Untersuchungen finden, die ein ganz ähnliches Bild zeichnen – von der Analphabetenrate bis zur Unterernährung.
Das Land: Die Republik Niger in der Sahelzone ist benannt nach dem Niger-Fluss, an dem die Hauptstadt Niamey liegt. 90 Prozent ihrer 1,267 Mio. Quadratkilometer sind Wüste. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund einem Euro pro Tag.
Die Menschen: Von den 20 Mio. Einwohnern ist die Hälfte unter 15. Nur ein Drittel der Kinder geht zur Schule. Im UN-Index der menschlichen Entwicklung besetzt Niger den letzten Platz.
Am Stadtrand und in Dörfern wird Ackerland knapp
Dabei reicht schon ein Spaziergang durch Niamey. Die Stadt ist wunderschön am Niger gelegen, doch im Vergleich zu anderen Hauptstädten der Region ist es ein Provinznest. Auf den belebten Märkten im Zentrum bieten junge Männer Kartoffeln, Zwiebeln oder Kürbisse an. Wer nichts zu verkaufen hat, versucht sich als Handlanger und fährt für Kunden Obst und Gemüse in großen, schweren Metallschubkarren bis zum nächsten Sammeltaxi. Ein paar Jungen ziehen mit Plastikschüsseln durch die Straßen und bitten um ein wenig Geld oder etwas zu essen.
Am Stadtrand und in Dörfern – 80 Prozent der Bevölkerung lebt auf dem Land – wird hingegen fruchtbares Ackerland immer knapper. Einerseits wird darauf Wohnraum geschaffen, andererseits verkleinert sich die zu vererbende Fläche nach dem Tod eines Familienoberhauptes immer weiter. Sie wird so klein, dass sie die Nachfolger nicht mehr ernähren kann. Von Generation zu Generation spitzt sich die Situation zu. 2005 kam es im Niger zu einer Hungersnot.
Abdoulaye sieht vor allem die Männer in der Verantwortung: „Sie wollen noch immer große Familien haben.“ Trotz aller Probleme gelten Kinder als Statussymbol, über das man in der Gesellschaft definiert wird. „Frauen haben dagegen kein Mitspracherecht“, sagt sie. Im Land gibt es zwar bekannte Frauen, wie die Sängerin Fatimata Marikou, die schon beim Afrika-Festival in Würzburg auftrat und gegen weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Teenager-Schwangerschaften singt. Doch bei der Präsidentschaftswahl im Februar war kein einziges Foto einer Frau auf dem Stimmzettel zu sehen.
Eine Aktivistin, die namentlich nicht genannt werden möchte, beklagt: „Es gibt kein Netz und keine Solidarität untereinander. Man geht nicht gemeinsam auf die Straße.“ Ein Beispiel dafür sei die Frauenquote für politische Ämter, die bei 15 Prozent liegt. „Männer halten sich strikt daran, was bedeutet: 15 Prozent bekommt ihr Frauen, aber keinen einzigen Sitz mehr.“ Sie erlebe nirgendwo Bereitschaft, dagegen zu kämpfen und die Quote zu erhöhen. Es sei nicht einmal Gesprächsthema.
Nicht einmal 12 Prozent der Frauen sollen verhüten
Ähnlich ist es mit der Familienplanung und erst recht mit der Verhütung. Die so gelassen wirkende Abdoulaye von Animas-Sutura lacht fast spöttisch auf. „Ich habe schon von Paaren gehört, die geschieden worden sind, weil sie die Antibabypille genommen hat. In ländlichen Regionen verstecken Frauen die Packungen in Hirsesäcken, buddeln ein kleines Loch in den Boden oder bitten eine Nachbarin um Hilfe.“ Animas-Sutura geht davon aus, dass nicht einmal 12 Prozent der Frauen verhüten. Die Nachfrage liegt bei etwa 30 Prozent.
Sie ist jedoch nicht nur so gering, weil die Männer dagegen, sondern weil die Möglichkeiten so wenig bekannt sind. In der Hauptstadt ist es noch einfach, an Informationen und Produkte zu kommen. In Krankenstationen und Apotheken werden auch Dreimonatsspritzen verkauft und die Spirale eingesetzt. Auf dem Land ist das jedoch oft unmöglich, da schon Krankenstationen zu viele Kilometer entfernt sind.
Animas-Sutura ist außer in Niamey in mehr als 700 Dörfern in den Regionen Zinder und Tahoua aktiv. Mit Radio-Werbespots in 70 Programmen werben die Mitarbeiter für Familienplanung. Sie sorgen dafür, dass die hellblauen Schachteln auch den Weg in entlegene Regionen finden. Umgerechnet rund 45 Cent kostet eine für drei Monate. Das ist selbst in einem der ärmsten Staaten der Welt bezahlbar. Wichtig ist auch, dass die Gegenden regelmäßig beliefert werden und der Verkauf diskret erfolgt. Niemand muss in einem Gesundheitszentrum, das ähnlich wie die Praxis eines Allgemeinmediziners funktioniert, alle persönlichen Daten preisgeben und in einer Akte festhalten lassen, welche Verhütungsmethode gerade genutzt wird.
Auf dem Land sind die Widerstände bis heute am stärksten. „Auf den ersten Blick finden sich durchaus nachvollziehbare Gründe, weshalb man große Familien will“, sagt Issaka Maga Hamidou, Soziologe und Demografie-Experte an der Universität Abdou Moumouni in Niamey. Viele Kinder bedeuten viele Arbeitskräfte, egal, ob im Haushalt, für kleine Verkaufsstände am Straßenrand oder auf den Feldern, wo Landwirtschaft noch immer Handarbeit ist.
Eine große Kinderschar gilt als Altersvorsorge
Gleichzeitig betont Soziologe Hamidou, dass dies eine Milchmädchenrechnung sei. Ein Kind großzuziehen koste schließlich viel mehr, als beispielsweise jemanden für einige Tage oder Wochen während der Erntesaison einzustellen. Allerdings ist eine große Kinderschar bis heute eine Art private Altersvorsorge. Eine staatliche Unterstützung gibt es schließlich nicht.
Letztendlich ist auch eine bestimmte Auslegung des Islam ein Hindernis in Sachen Familienplanung, erlebt der Soziologe. Bei Vorträgen wird ihm manchmal vorgeworfen, er sei Sprachrohr des Westens. „Dabei ist Familienplanung in vielen arabischen Staaten längst normal. Doch hier will das niemand hören“, sagt Hamidou. Den mehr als 80 Prozent Muslimen unter den Bewohnern im Niger wolle niemand eine bestimmte Anzahl an Kindern vorschreiben. Der Appell geht in eine andere Richtung: Jedes Paar soll selbst entscheiden, wie viele Kinder es sich leisten kann – unabhängig vom gesellschaftlichen Druck.
Dazu gehört jedoch eine weitere Bedingung: wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen. Wer jedes Jahr ein Kind bekommt, hat kaum Chancen, sich ein eigenes Geschäft aufzubauen oder weiter zur Schule zu gehen. „Wir haben einigen Frauen Geld gegeben und gesagt: Baut euch etwas auf“, erinnert sich Abdoulaye von Animas-Sutura an ein kleines Projekt, das jedoch nicht zu den Hauptaufgaben ihrer Organisation gehört. Gut funktioniert hat es allerdings: „Viele Frauen haben innerhalb der Familie eine stärkere Stellung bekommen. Diese Autonomie spielt eine ganz wichtige Rolle.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich