Betroffener über Gewalt im Kinderheim: „Verbrechen, die nicht verjähren“
Günter Wulf kam 1968 als Neunjähriger auf den Hesterberg in Schleswig. Über die Gewalt, die er dort erlebte, hat er ein Buch geschrieben.
taz: Herr Wulf, Sie haben in Ihrer Kindheit und Pubertät grauenvolle Dinge erlebt. Seit vielen Jahren sprechen Sie darüber, haben nun auch ein Buch verfasst. Werden die alten Ängste und Bilder dadurch nicht immer wieder aufgewühlt?
Günter Wulf: Das bleibt nicht aus. Meist kriege ich das nachts zu spüren. Dann sehe ich das Mädchen, das vor meinen Augen erwürgt wurde, oder den Jungen, der tot neben mir im Bett lag. Sehr oft sehe ich mich selbst in der Zwangsjacke.
Diese Dinge haben Sie auf dem Schleswiger Hesterberg erlebt, einem psychiatrischen Heim des Landes Schleswig-Holstein. Spielen wir mal „Was wäre, wenn“ – was wären Sie heute wohl von Beruf, wenn Sie nicht als Kind im Heim gelandet wären?
Ich glaube, aufgrund meiner Interessen wäre ich vielleicht Archäologe, Geologe oder Historiker. Ich bin ein neugieriger Mensch, ich will immer mehr wissen. Darum ist mein Zimmer voller Bücher: Durchs Lesen entwickelt sich der Verstand.
Dabei hat man Ihnen als Kind abgesprochen, dass Sie überhaupt lernen können. Wie kam es dazu, wie sind Sie ins System Heim geraten?
Ich war unehelich, und solche Kinder sah man damals, 1959, nicht gern. Kurz nach meiner Geburt schlug das Jugendamt zu und brachte mich in die Vorwerker Diakonie in Lübeck. Meinen Vater kenne ich gar nicht, meine Mutter habe ich 1983 kennengelernt und habe bis heute Kontakt zu ihr. Sie hat damals verzweifelt nach mir gesucht. Im Vorwerk gab es auch schöne Zeiten. Ich erinnere mich an einen Bauernhof, wo ich in die Pferdeboxen gekrochen bin und Schweine gefüttert habe. Aber je älter ich wurde, desto drastischer wurden die Zügel angezogen. Ich war ein unruhiges Kind, wollte toben, mich entfalten – eigentlich wie jedes Kind, aber damit kamen die nicht klar. Zur Strafe wurde mir mein Kuschelbär weggenommen, und ich verstand immer weniger, was die von mir wollten. Eine sehr religiöse Lehrerin habe ich angeschrien, das war der letzte Tropfen: Im Juni 1966 wurde ich ausgeschult. Damit hat man mir unermesslichen Schaden zugefügt.
Aber Sie haben später doch einen Schulabschluss gemacht?
Ja, mit dem Gesellenbrief am Ende der Malerlehre erwarb ich den Hauptschulabschluss. Im Hesterberg hatte ich nur die Sonderschule besucht. Mein damaliger Lehrer hat mich aber unterstützt und auf den Hauptschulabschluss vorbereitet. Nach der Lehre war ich in Arnis bei einem Yachtausstatter tätig, ging dann zur Bundeswehr, war als Portier in einem Luxushotel in der Schweiz. Dann kehrte ich nach Flensburg zurück – und merkte allmählich, dass ich ein Problem mit dem Alkohol habe.
Haben Sie sich Hilfe gesucht?
Ich litt unter Klaustrophobie, erlebte den dritten, vierten Hörsturz. Da begab ich mich freiwillig in psychiatrische Behandlung. Und zwar, großer Fehler, in Schleswig. Da kamen die Erinnerungen wieder hoch.
Was haben Sie als Kind auf dem Hesterberg in Schleswig erlebt, und warum kamen Sie überhaupt von Lübeck dorthin?
Vorwerk hatte wohl keine Lust mehr auf mich und hat mich 1968 für unzurechnungs fähig erklärt. Das Vormundschaftsgericht hat nach Aktenlage zugestimmt, das werfe ich den damals Verantwortlichen bis heute vor. Im Hesterberg wurde ich gleich – als Neunjähriger! – in die Zwangsjacke gesteckt. Ich wurde zum Küchendienst eingeteilt, musste in den Keller zu Ratten und Mäusen, musste die zugekotete Bettwäsche anderer Patienten reinigen. '69 erlebte ich die erste Tötung: Ein Patient hat einem jungen Mädchen beim Spielen die Kehle eingedrückt. Das passierte auf dem Hinterhof von Haus G, ich konnte es aus einem Fenster in Haus F sehen.
Wurden Sie selbst Opfer von Gewalt?
Wir waren in Schlafräumen mit zehn, zwölf Betten zusammengepfercht, an uns wurden Medikamente getestet. Die größte Gewalt ging von den anderen Patienten aus: Die Älteren haben uns Jüngere geschändet. Und immer Sonnabendnachmittags haben sie uns wie Gladiatoren aufeinander gehetzt und geschlagen, während das Pflegepersonal oben Kaffee trank. 2015 war ich noch mal im Haus F, habe die Räume gesehen und mich gefragt, wie man so etwas überlebt.
Trotz dieser Erfahrungen haben Sie sich als Erwachsener freiwillig an die Psychiatrie gewandt. War das hilfreich?
„Sechs Jahre in Haus F“, Bastei-Lübbe, 253 Seiten, erschienen im April 2020
Ja, die heutigen Psychiater und Therapeuten sind vom Wesen ganz anders als damals. Den Beginn des Wandels habe ich selbst noch mitbekommen, als Hermann Meyerhoff 1971 nach Schleswig kam. Er hat frischen Wind gebracht, neue Leute geholt. Was heute aus der Anstalt geworden ist, das verdankt sie alles Meyerhoff.
Sie haben lange versucht, Ihre Vergangenheit öffentlich zu machen. Wer hat Ihnen schließlich geglaubt?
2004 habe ich in der Psychiatrie in Breklum von den Erlebnissen in Schleswig erzählt. Geglaubt hat mir nur einer, der den Hesterberg kannte, alle anderen hielten mich für einen Spinner. Auch im privaten Umfeld hieß es: Der hat einen an der Klatsche. 2010 wurde ich von Stephan Richter, damals Chefredakteur des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags, interviewt. Durch den Text entstand Kontakt zu einem anderen ehemaligen Heimkind, Wolfgang Petersen. Er war mit dem WDR im Gespräch, der eine Dokumentation drehte. So kam alles ins Rollen, andere Betroffene sprangen mit ihren Geschichten auf den fahrenden Zug auf.
Inzwischen sind Sie eine ganze Gruppe. Stärkt man sich, oder ist man dadurch in der Vergangenheit gefangen?
Man steckt in der Vergangenheit, aber man hilft sich und arbeitet zusammen, etwa im Verein ehemaliger Heimkinder e. V. Wir waren im Bayer-Archiv, haben in alten Akten recherchiert. Das war schon besonders.
Heute werden die Zustände in den Heimen aufgearbeitet, Sie haben im Kieler Landtag gesprochen. Was fehlt Ihnen noch, was wünschen Sie sich?
Es gab Menschenrechtsverletzungen, es gab Zwangsarbeit – das sind Verbrechen, die nicht verjähren. Viele tragen Verantwortung: der Staat, die Ärzteschaft, die Kirchen, die Aufsichtsbehörden, die Pharmaindustrie. Ich will, dass deren Vertreter uns anhören, und ich möchte im Bundestag eine Rede halten. Ja, die Ereignisse, auch die Medikamententests, werden aufgearbeitet. Aber es läuft schleppend, auch bei den individuellen Ansprüchen auf Schadensersatz. Mein eigener Antrag auf Hilfe nach dem Opferentschädigungsgesetz läuft seit 2019. Die wollen genau hören, was mir passiert ist – ich habe mein Buch hingeschickt, da steht ja alles drin.
Das Buch heißt „Sechs Jahre in Haus F“. War es schwer, sich dafür noch einmal ganz genau mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Es war nicht leicht. Zwischendurch hätte ich fast aufgegeben, als die Alpträume wieder richtig begannen. Die Ereignisse, alle Namen, Daten, Fakten, haben sich mir fest eingebrannt – schließlich hat es mich auch mehrfach fast das Leben gekostet. Ich wurde fast in der Badewanne ertränkt, bei einer Vergewaltigung fast erwürgt. Das bleibt, und ich habe mit den Folgen weiter zu tun. Immerhin habe ich 2002 die letzte Flasche Bier ausgekippt und rühre heute keinen Tropfen Alkohol an.
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