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Bestatterin über Corona-Beisetzungen„Ein Toter ist keine Sache“

Bestatterin Claudia Marschner hat ihr Handwerk in der Aids-Krise gelernt. Ein Gespräch über bunte Särge und Beerdigungen während einer Pandemie.

Abschied kann man nicht wiederholen: Claudia Marschner ist Beerdigungsprofi Foto: Karsten Thielker
Martin Reichert
Interview von Martin Reichert

taz am wochenende: Frau Marschner, in Berlin wurden zwischenzeitlich die Friedhöfe gesperrt. Nicht wegen zu vieler Toter, sondern weil sich dort bedingt durch die Coronakrise zu viele Lebende tummelten. Stören Spaziergänger, spielende Kinder und Hunde die Totenruhe?

Claudia Marschner: Spaziergänger auf Friedhöfen gab es schon immer, auch Leute, die dort lesen. Mittlerweile gibt es da auch Cafés. In der Stadt sind Friedhöfe heute integrierte Kulturstätten. Was ist, wenn Kinder in der jetzigen Situation sagen, sie wollen dort spielen? Die wollen halt raus! Das ist doch auch gesund. Und dann ist eben nix mehr mit zwei Metern Abstand. Unsere Lungen brauchen aber frische Luft. Wenn ich jetzt mit dem Fahrrad unterwegs bin, denke ich manchmal, dass ich in das alte Berlin zurückfahre.

Welches Berlin, das der Achtziger?

Das war doch in den Neunzigern auch noch so. 2008 gab es dann den Immobilien-Hustle und ein riesiges Interesse an Berlin. Mehr Menschen sind eigentlich okay, die gibt’s in New York auch. Aber die Deutschen haben eben nicht die Mentalität zu sagen: „Hey, how are you?“ So ein bisschen Oberflächlichkeit wäre bei dieser Enge vielleicht ganz gut, mal ein Lächeln. Aber jetzt sind die Straßen frei, und die Menschen lächeln einander tatsächlich an, wenn sie sich ausweichen müssen. Ich komme wunderbar durch, wenn ich mit dem Rad zu den Standesämtern muss.

Standesämter?

Die Papiere müssen dorthin gebracht werden, die Sterbefallanzeigen, damit die Leute ihre Sterbeurkunden bekommen. Jedenfalls hat sich meine Arbeit im Moment dadurch erleichtert.

Sie haben noch nicht mehr Kunden?

Nein. Und ich bin eben auch die ewige Optimistin. Wenn alle Stricke reißen, hängen wir uns auf! Gleichzeitig sehe ich eine leere, furchterfüllte Stadt – das finde ich wirklich gruselig. Und es erstaunt mich, wie brav alle zustimmen und sagen: Jawohl, ich mache meinen Laden zu und gehe nach Hause. Dieser Gehorsam hat was Erschreckendes.

Auch Beerdigungen sind von den neuen Verordnungen erfasst.

Wir hatten gerade so eine Situation: Ab fünfzig Gästen darf man nicht mehr in die Trauerhalle. Wenn nun nur zehn Gäste kommen, kann man sich immer noch auseinandersetzen. Und man muss sich in Listen eintragen, damit bei einer eventuellen Ansteckung die Infektion zurückverfolgt werden kann. Bei größeren Trauergesellschaften muss man nun direkt zur Grabstelle gehen – so was haben wir früher immer „Stille Beisetzung“ genannt. In der Praxis ist es dann eben so, dass die Leute erst an der „Stillen Beisetzung“ teilnehmen, ist auch billiger, und dann gehen sie nach Hause und essen dort gemeinsam.

Darf man aber nicht.

Also ich würde meine Freunde ehrlich gesagt nicht ausladen. Es ist eine Beerdigungsfeier, keine Coronaparty.

Bei einer Beerdigungsfeier geht es um einen gemeinsamen Abschied. Abschiede kommen auf uns zu, aber Gemeinsamkeit ist gegenwärtig eher schwierig.

Also, in Berlin haben wir durchaus große Trauerhallen, da passen teilweise 300 Leute rein. Da kann man doch Abstand halten. Wenn so ein Abschied schief läuft oder nicht stattfinden kann, daran erinnerst du dich 30 Jahre lang. Wenn sich dann hinterher herausstellt, dass das alles übertrieben war mit dem Social Distancing, werden die Leute sauer werden.

Eine Beerdigungsfeier ist aus Ihrer Sicht unverzichtbar?

Das sind einschneidende Ereignisse. Auch Menschen mit wenig Geld geben alles, dass es eine würdevolle Feier wird. Mit Blumen, einem gemeinsamen Essen danach. Wenn du aber zum Friedhof musst und kannst nur den Sarg beisetzen, dann ist das wirklich sang- und klanglos. Dann fühlen sich die Familien schlecht. Man kann einen Abschied nicht wiederholen.

In Bergamo sterben gerade viele Menschen alleine im Krankenhaus. Beerdigungen finden im Halbstundentakt statt, ohne Feierlichkeiten.

Das ist schrecklich. Ich weiß nur, dass in Italien das System anders ist, man ist dort schnellere Bestattungen gewohnt, und daher gibt es nicht so große Kühlkapazitäten. Und es ist auch eine Frage der Organisation, der Vorbereitung – ich erinnere mich, bei Ebola vor ein paar Jahren haben die Ämter angerufen und gefragt, welche Kapazitäten wir haben. Die Infektionskette wurde da ja schon in Afrika unterbrochen, aber die haben hier eine Frühwarnung rausgegeben, haben uns Bestatter angeschrieben.

Gab es solche Warnungen nun auch?

Überhaupt nicht. Obwohl Covid im gleichen Seuchenregister steht. Aber wir ergreifen natürlich auch entsprechende Schutzmaßnahmen. Wir sagen den Gästen, dass sie nicht bei der Einkleidung dabei sein sollen, man kann ja auch ein Foto davon machen. Und man kann zum Abschied die Hand auf den geschlossenen Sarg legen – die öffnen wir nun nicht mehr, wie auch nicht bei Hepatitis C oder Tuberkulose. Zudem haben wir die Teams in Vor- und Nachmittag geteilt, damit nicht die ganze Truppe krank ist, wenn sich jemand ansteckt. Wir müssen irgendwie den Spagat schaffen, eine Nähe zu ermöglichen und gleichzeitig Schutz zu bieten.

Wie bei den Social-Distancing-Regeln sind auch die Vorschriften für Beerdigungen in Deutschland nicht einheitlich. In vielen Bundesländern dürfen Beerdigungen nun nur noch im engsten Familienkreis stattfinden.

Das erinnert mich wirklich an die Aids-Zeiten, als schwule Partner von der Trauerfeier ausgeschlossen wurden, weil sie nicht zur biologischen Familie gehörten. Da hieß es dann: Das ist unser Junge, und der wird bei uns auf dem Dorf beerdigt. Jetzt ist Familie wieder nur die biologische Familie. Da werden gerade Regeln geschnürt, bei denen wir aufpassen müssen, dass sie später wieder gelockert werden.

Die Coronapandemie erinnert Sie an die Aids-Krise?

Also, die Deutschen sind schon ein relativ sortiertes Volk – aber es gab damals doch auch eine ordentliche Portion Hysterie. Da war dasselbe Szenario in den Medien: Was ist das für ein Virus? Wie stecken wir uns an? Dürfen wir aus einem Glas trinken? Dürfen wir zum Zahnarzt? Dürfen wir uns noch anfassen? Dürfen wir uns küssen, und wenn ja, wie? Bis dann irgendein rechter Fuzzi gesagt hat: Ist ’ne Schwulenseuche. Und, bumm, waren alle zufrieden, betrifft ja nur die Schwulen. Bis heute sind 32 Millionen weltweit daran gestorben. Also, aus dieser Perspektive betrachtet ist dieses Coronavirus bislang noch kein GAU. Und deshalb verstehe ich die Radikalität der aktuellen Maßnahmen manchmal nicht – in den Achtzigern und Neunzigern sind so viele Menschen auf einen Schlag an Aids gestorben, dass ich wirklich dachte: Das mit dem Beruf als Bestatterin lässt du vielleicht lieber. Ich hatte wirklich Angst, auch vor der Sichtbarkeit des Virus: was das mit den Menschen und ihrem Körper gemacht hat. Und das lag dann so auf der schwulen Community drauf, und für alle anderen galt schnell Entwarnung – was so gar nicht stimmte.

Aids galt als die „Krankheit der anderen“: der Schwulen, DrogenkonsumentInnen, Prostituierten.

Im Interview: Claudia Marschner

wurde 1966 in Berlin geboren. Nach der Schule und mehreren beruflichen Stationen arbeitete sie zwei Jahre lang als Immobilienmaklerin. Von 1990 bis 1992 war sie in einem konventionellen Bestattungsinstitut tätig, bevor sie dann 1992 ihr eigenes Bestattungsgeschäft eröffnete. Marschner-Bestattungen hat seine Räumlichkeiten in Berlin-Kreuzberg (am Lokdepot 2). Auf der Website von Marschner-Bestattungen gibt es einige der unkonventionellen Särge und Urnen zu sehen.

Ich bewundere bis heute die Gay Community, die damals sagte, Angriff ist die beste Verteidigung. Das war auch eine sehr männliche Energie: Aids geht jeden an! Jeder muss sich schützen! Die Aids-Hilfen wurden gegründet, Hospize. Und erst dann wurde der Gesellschaft klar: Das geht uns alle an.

Irgendwann sprachen dann alle über Kondome – ein bisschen so wie heute über Masken.

Die Gay Community war revolutionär, auch ohne Steine zu schmeißen. Ich kann das immer gut am Alten St. Matthäus Kirchhof erklären, einem evangelischen Friedhof in Berlin-Schöneberg. Damals hat man dort noch auf Orgelmusik bestanden und sämtliche Traditionen. „My Way“ zu spielen oder gar Songs von Freddy Mercury wäre undenkbar gewesen – geschweige denn bunte oder bemalte Särge.

Bunte Särge?

Ja, warum denn nur braune? Warum nicht rot oder violett? Und warum weiße Särge nur für Nonnen? Erst wurde dieser Friedhof Tröpfchen für Tröpfchen revolutioniert – dann zogen allmählich die anderen nach. Der Verein Kirche PositHIV wurde gegründet. Und es gab Pfarrerin Dorothea Strauß, die habe ich seinerzeit oft auf Friedhöfen getroffen. Mit der hattest du die Frau Gottes hinter dir, sodass die Friedhofsverwaltungen klein beigaben. Aber die hatten eben auch Angst: Machen die jetzt eine Partymeile aus unserem Friedhof? Veränderungen gehen langsam, aber die Community hatte auch Courage. Es gab starke Aktivisten, Aktivistinnen, wie Melitta Sundström, Ovo Maltine. Oder den Fotografen Jürgen Baldiga, der von seinen Aids-Phasen Bilder machte. Damals gab es noch keine Medikamente, HIV positiv zu sein war ein fast sicheres Todesurteil.

Fing es damals an, dass Kinder Särge bemalen durften?

Ja. Zu der Zeit dachten viele, Homosexuelle leben in einer Blase nur mit ihresgleichen. Aber dass die Geschwister oder Freunde mit Kindern hatten, hatten viele nicht auf dem Schirm. Dann gab es Nichten und Neffen, die den Sarg bemalen und gestalten wollten. So wie es auch viele Künstler gab in der Community, die auf mich zukamen. Da sagte dann einfach jemand: Komm, ich bemale dir den Sarg. Wenn du den verkaufst, teilen wir das Geld. Aber Corona fällt auch in eine Zeit, in der schon viele Künstler aus Berlin vertrieben wurden. Ich sehe da im Moment mehr Ängstlichkeit als Kreativität.

Von Corona sind eher alte Leute bedroht – bei Aids starben junge.

Ja, das hat junge Leute getroffen und ein Loch ins Leben gerissen. Sexualität heißt ja Leben, Spaß haben, sich anfassen. Und das ist jetzt eigentlich auf einer fieseren Ebene wieder so. Wenn man sagen könnte, okay, wieder ein Virus, wieder kein Sex – aber wenigstens könnte man sich umarmen.

Sex geht noch, aber am besten nur mit dem Partner. Wie in den Fünfzigern.

Man muss wirklich aufpassen. Was ist realistisch und was macht Politik daraus. Bei mir als gebürtiger Berlinerin löst das ganz schön was aus, wenn es nun heißt: Grenzen dicht. Ich laufe jetzt durch die Straßen, und wenn ich Freunde sehe, machen wir Fußgruß. Was verlernen wir da eigentlich gerade?

Aus Aids sind auch Dinge erwachsen.

Natürlich. Gay People heißen nicht umsonst gay People – die LGBTI* mögen es mir verzeihen –, gay heißt ja eben humorvoll, fröhlich. Und so sind sie damit umgegangen. Ich bin damals viel ausgegangen, und die Auswirkungen hast du ganz konkret auf der Tanzfläche beobachten können. Leute waren dann weg. Später wurden Kondome verteilt, aber mit Witz, mit Leichtigkeit trotz allem. Ich wünschte mir jetzt entsprechend bunte Masken, witzige Masken, Masken mit Aufschriften wie „Denkt an Italien“. Im Leid singen, das Beste daraus machen, das war sehr Berlin. Ich musste da auch viel an meine Oma denken, die mit meiner Mutter schwanger in den Fliegerkeller musste. Die haben sich Witze erzählt und gegackert.

Jetzt gibt es Klopapierwitze.

Das Lustigeste, was ich gelesen habe, war: „Ich hab jetzt Klopapier eingefroren.“ So muss man damit umgehen. Das vermisse ich bei den Politikern gerade, so eine Lockerheit wie bei Klaus Wowereit, der mit einer „Mutti vons Janze“-Jacke auf den Berliner CSD gegangen ist.

Klaus Wowereit hat gerade seinen Mann durch Corona verloren und sitzt alleine in Quarantäne. Wir kommen gerade nicht zusammen als Gesellschaft oder Community. Bei Aids konnte man sich noch zum Tanzen treffen oder zum Weinen, jetzt sind wir total atomisiert.

Wir sind isoliert. Ich bin in meiner Branche eher Ruhe gewohnt – genauer: Tote gewohnt. Und dann hat man im Gegenzug auch ein Bedürfnis nach Leben. Und jetzt darf man sich nicht treffen. Ich sage nur: Da muss man einem Staat schon sehr vertrauen.

Stimmt es, dass Sie mit den Toten Zwiesprache halten, wenn Sie mit ihnen alleine sind?

Am Anfang meines Berufslebens habe ich damit immer meine Angst bewältigt, „Ach, Herr Schmidt, Ihre Frau hat mir hier so eine Jacke gebracht“, da habe ich so ein bisschen Leben simuliert. Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass ich gar nicht laut sprechen muss dafür. Aber ich kommuniziere. „Hallo, ich bin die Bestatterin, ich werde vorsichtig sein.“ Ich habe auch das Gefühl: Da ist noch was. Wann ist jemand tot? Für mich ist ein Toter keine Sache, sondern ein Mensch. Mediziner sehen das vielleicht anders, eine Leiche ist dann ein medizinisches Objekt.

Ihre erste Begegnung mit dem Tod war hart: Sie waren sehr jung, als Sie Ihre Mutter verloren durch Suizid.

Lang ist es her, da war ich vierzehn Jahre alt.

Hatte diese frühe Verlusterfahrung etwas mit Ihrer späteren Berufswahl zu tun?

Na ja, es war nun nicht so, dass ich irgendwann gesagt habe, dass es mein Traum ist, Bestatterin zu werden. In den Jahren nach dem Tod meiner Mutter dachte ich eher: Du musst raus, du musst berühmt werden. Ich darf nicht so enden wie meine Mutter. Ich war so ein Hibbel. Ich musste immer irgendwie rödeln und unterwegs sein und tanzen gehen. Eines Tages rief dann ein Freund an und sagte, dass er jetzt bei einem Bestatter arbeite und ob ich nicht mitmachen wolle. Und dann haben wir eine Zeit lang zusammengearbeitet

Nur eine Zeit lang?

Ich war jung und dachte, nee, also ich will jetzt noch nicht Leichen versorgen. Gleichzeitig merkte ich, dass ich doch sehr viel Ähnlichkeiten mit meiner Mutter habe, und da kam viel hoch, auch an Trauer. Dann wollte ich wissen: Wo hat man die denn damals hingebracht, was ist überhaupt eine Gerichtsmedizin? Wer hat sie angefasst und wie? Und haben die Witze dabei gemacht? Ich habe den Beruf dann schließlich doch gelernt, obwohl das damals kein Ausbildungsberuf war, aber die alten Hasen gaben die Tricks weiter. Die ganzen Legenden wurden dann in meinem Kopf aufgelöst.

Legenden?

Bestatter brechen Knochen, solche Dinge. Ich merkte, dass sind auch nette Leute – und sie machen keine Witze über die Toten. Und dann kam die Aids-Zeit und ich war mitten drin in einer Zeit, in der nun andere Wege der Trauer beschritten wurden – das war auch eine schöne Erfahrung.

Heute ist eine vielfältige Begräbniskultur selbstverständlich geworden.

Die Aids-Community hat sozusagen die Türen aufgeknackt und gesagt: Jetzt schafft euch mal ein eigenes Trauerparadies. In den Neunzigern wäre niemand auf die Idee gekommen, dass es möglich ist, auf einem Friedhof ein Café zu eröffnen anstatt eines Blumenladens. Aber warum soll man nicht auf einem Friedhof Kaffee trinken?

Was darf man denn nicht?

Ich habe durch Aids gelernt, was es heißt, Kompromisse zu schließen, was Koexistenz bedeutet. Man muss eben auf einem evangelischen Friedhof nicht gleich den Altar abräumen, nur weil man selbst bunt ist. Wenn jemand ein Problem mit religiösen Symbolen hatte, wurde halt nonchalant ein Blumenstrauß vor dem Kreuz drapiert. Es gab feine Nuancen, sodass nie eine Friedhofsverwaltung einschreiten musste. Es gab Ansagen: Kommt in Weiß, kommt in Regenbogenfarben – aber keine Zerstörung. Es geht nicht darum, den anderen wegzukegeln, sondern darum, dass es keine Ausschließlichkeit gibt. Glaube und Gay geht eben. Oder wenigstens Respekt.

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