Berlins Umgang mit den Schulen: Die Pandemie als Schulversuch
Viele Schulen drängen darauf, Kinder in Teilzeit-Homeschooling zu schicken. Denn die Corona-Krise könnte eine Chance sein, Schule anders zu denken.
Das „Teilungssystem“ meint in diesem Fall: den Wechsel aus Unterricht zu Hause und Lernen in der Schule. Was vor Corona höchstens an einer Handvoll besonders fortschrittlicher Schulen im Programm war, ist in der Pandemie plötzlich das heiß umstrittene Ding schlechthin: Sollte man alle Jugendlichen ab der 7. Klasse in den Wechselunterricht aus Homeschooling und Präsenz in der Schule schicken – und zwar nicht nur, weil das aus infektiologischer Sicht jetzt vernünftig wäre. Sondern weil es eben auch, und wer hätte das gedacht, gerade den SchülerInnen nutzen könnte, die eigentlich mehr Unterstützung beim Lernen brauchen.
Die Meinungen darüber gehen auseinander. Und es gibt zahlreiche Nebenschauplätze, zum Beispiel auch den Kampf darum, wie selbstverantwortlich die Schulen darüber entscheiden sollten.
An der Sekundarschule Wilmersdorf sagt die Schulleitern Martina Schult: „Gerade weil wir die Schule offen halten wollen, müssen wir jetzt umstellen auf Wechselunterricht mit halbierten Klassen.“ Die Kinder säßen jetzt „eng an eng“ in den Räumen, das Kollegium fühle sich „unter Druck“: „Wir müssen hier Hygieneregeln vermitteln, die wir selbst nicht einhalten können.“
Erfahrung aus dem Lockdown im Frühjahr
Man nehme, sagt Schult, mit den vollen Klassen viele Quarantänefälle in Kauf, sobald ein Fall in einer Klasse auftritt. „Und zwei Wochen nur zu Hause sein im Homeschooling, das ist hart, auch für die Familien.“ Wenn man eine Erfahrung aus dem Lockdown im Frühjahr mitnehme, als die Schulen tatsächlich für einige Wochen geschlossen waren, dann diese.
Schulleiterin Schult sagt, sie hätten deshalb über den Sommer ein Konzept erarbeitet, wie Schule unter Pandemiebedingungen auch aussehen könnte, und das bis zu den Herbstferien auch zunächst umgesetzt: Vier Stunden war die eine Hälfte jeder Klasse in der Schule, vier Stunden am Tag die andere. Die Fachbereiche hätten Aufgaben entwickelt und Arbeitspläne erstellt, mit einem Wechsel aus neuem Input in der Schule und Übungsphasen zu Hause. Und wer daheim nicht in Ruhe lernen kann, für den kümmere sich die Schulsozialarbeit um einen Raum – auch schon vor Corona.
Das Erstaunliche, sagt Schult: Gerade die förderbedürftigen SchülerInnen, auf die man ein Auge haben muss – und die der Politik als ein Hauptargument dienen, warum man die Schulen im Präsenzbetrieb halten will –, „die verlieren wir überhaupt nicht“. Im Gegenteil, sagt Schult: „Wir haben die Lerngruppen leistungsmäßig möglichst heterogen zusammengesetzt. Und wir sehen: Die Stillen bekommen eine Stimme und entfalten ihre Fähigkeiten, die Lauten mäßigen sich.“
Ähnliche Erfahrungen hat auch Suzann Haße, Schulleiterin an der Kurt-Tucholsky-Sekundarschule in Pankow, gemacht. Vergangene Woche hatte die Schule einen „Probelauf“ mit geteilten Klassen: „Die Lehrkräfte haben mehr Zeit für den Einzelnen, die Jugendlichen fühlen sich mehr gesehen.“
Konzept für einen Wechselbetrieb
Was man aber vor allem brauche, sagt die Schulleiterin, sei Planbarkeit: „Im Moment reagieren wir nur auf die Infektionslage, wir können nicht sicher sagen, was nächste Woche ist. Das bringt viel Unruhe rein.“ Dabei hätten auch sie nach dem Frühjahr „ein gutes Konzept“ erarbeitet für einen Wechselbetrieb: Je älter die SchülerInnen, desto mehr sollen sie zu Hause lernen, sowohl analog mit Arbeitsblättern und Stift als auch auf dem Tablet. Das Kollegium, sagt Haße, habe an der Methodik fürs Lernen zu Hause gefeilt, alle hätten inzwischen Schul-E-Mail-Adressen.
Doch diese Konzepte durften die Schulen bisher maximal als Projektwoche ausprobieren: Als Anfang Oktober das Infektionsgeschehen auch in Berlin schnell wieder anzog, gab Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Order aus: Der Präsenzbetrieb muss die Regel sein. Man habe Sorge, sonst zu viele Kinder zu „verlieren“.
Die Senatorin stand mit dieser Linie keineswegs alleine da. In seltener Einmütigkeit hatten die LänderchefInnen vor dem Treffen mit der Kanzlerin am Mittwoch erklärt: Die Schulen bleiben möglichst im Regelbetrieb – allem Druck vor allem seitens Gewerkschaften und Lehrerverbänden zum Trotz, die seit Wochen mit zunehmender Lautstärke auf mehr Arbeitsschutz für die Lehrenden pochen.
„Soweit es geht, soll der Präsenzbetrieb aufrechterhalten werden“, hatte der Regierende Michael Müller (SPD) auch noch mal zu Wochenbeginn im Senat bekräftigt – unbeeindruckt von einem Brief der Gewerkschaft GEW am selben Tag, die Müller direkt aufforderte, „den Gesundheitsschutz in den Schulen und Kitas zur Chefsache zu machen und für die Verkleinerung der Lerngruppen zu sorgen“.
„Karren voll gegen die Wand“
Katharina Becker (Name geändert) ist Lehrerin an einem Gymnasium in Moabit und sagt: „Ich find’s krass. Für mich fahren wir den Karren gerade voll gegen die Wand.“ Die Quarantänefälle an ihrer Schule nähmen zu, und zwar unnötigerweise. Becker sagt, der Lockdown im Frühjahr habe ihre Schule unvorbereitet getroffen. „Die Kinder waren überfordert zu Hause – weil wir keinen Plan hatten.“ Danach sei aber „sehr viel Zeit und Energie“ in die Entwicklung von digitalen Unterrichtsmodellen geflossen.
Wobei auch allen inzwischen klar ist: Ein Tablet allein ist noch kein Konzept fürs „schulisch angeleitete Lernen zu Hause – saLzH“, wie der Wechselunterricht etwas sperrig, aber pädagogisch korrekt heißt. Das sagt auch eine Mutter, die Elternsprecherin an einem Pankower Gymnasium ist: „Der Unterricht wird nicht zwangsläufig besser, weil er digital stattfindet.“ Sie sagt: „Es steht und fällt mit dem methodischen Konzept, das ein Lehrer hat.“
Becker ist Klassenlehrerin einer 7. Klasse und sagt, dass aus ihrer Sicht drei Dinge wichtig sind, damit man die Kinder und Jugendlichen im Teilzeit-Homeschooling nicht verliere: Neues sollten die Kinder in der Schule lernen und sich nicht zu Hause selbst erarbeiten müssen. Man dürfe nicht versuchen, den „kompletten Stundenplan“ nach Hause mitzugeben, sondern „maximal ein bis zwei Fächer“. Und: „Wir gehen nicht davon aus, dass die Kinder zu Hause irgendetwas ausdrucken können.“
Will heißen: Die Mindestanforderung ist ein Smartphone mit Scan-App, sodass die Kinder handschriftliche Hausaufgaben scannen und dann mailen können. Eine Abfrage an ihrer Schule habe ergeben, dass zwei Drittel der Kinder nur ein Smartphone als internetfähiges Endgerät haben. „Darauf haben wir reagiert.“ Wer auch kein Handy hat, für den gebe es ein Leih-Tablet. Davon hat die Bildungsverwaltung im Frühjahr rund 9.500 aus Landesmitteln an die Schulen verteilt, weitere 41.500 sollen folgen.
Präsenzbetrieb als Regel
Ihr Konzept, so Becker, hätten sie gern weiter ausprobiert. Doch nach den Herbstferien sei dann eben Schluss gewesen: Präsenzbetrieb als Regel. Die Pädagogin sagt allerdings auch, wenn man sie fragt, ob das Modell etwas sei, wie man Schule auch denken könne – unabhängig von Corona und über die Krise hinaus: „Nein. Das ist eine Antwort auf die Pandemie, die wir da gefunden haben. Dazu ist das soziale Miteinander, das Schule auch ausmacht, einfach zu wichtig für die Jugendlichen.“
Auch wenn der Wechselunterricht für die weiterführenden Schulen in Hotspots – und das ist Berlin – jetzt doch noch kommt nach der Bund-Länder-Schalte am Mittwoch: Die meisten Schulleitungen, auch das hört man immer wieder in Gesprächen, wollen gar keine fixe Ansage. Sie wollen vielmehr selbst entscheiden können, was für ihre Schule aus ihrer Sicht das Beste ist.
Bildungssenatorin Scheeres fürchtet dieses Szenario. „Ich will Chaos vermeiden“, hatte Scheeres vor den Herbstferien im taz-Interview mit Blick auf den Coronawinter in den Schulen gesagt. Was sie damit meint: dass die Schulleitungen unter dem Druck der Kollegien die Kinder ins Homeschooling oder einen irgendwie gearteten Wechselbetrieb schicken.
Am Ende, so die Befürchtung, hätten die SchülerInnen das Nachsehen, die zu Hause wenig Unterstützung haben – oder gar ein echtes Problem haben, weil die Familien heillos überfordert sind. Die Zahl der Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt hat während des ersten Lockdowns im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 20 Prozent zugenommen, teilte die Polizei Anfang November mit.
LehrerIn will gelernt sein
Und dann ist da nicht zuletzt der ökonomische Faktor, zumindest bei jüngeren Kindern im Grundschulalter: Wenn Eltern zu Hause im Homeoffice bleiben, weil die Kinder Hilfe vorm Tablet brauchen, ist das nicht zuletzt ein Ausfall an Arbeitskraft. Wer ein Kind zu Hause hat, weiß spätestens seit dem Frühjahrs-Lockdown: LehrerIn sein will tatsächlich gelernt sein. Und die Geometrieaufgabe in Mathe erklärt sich – wenn sie sich überhaupt erklärt – nicht mal eben fix, während man weiter das E-Mail-Postfach für die Arbeit in Schach hält.
Andererseits ist auch wahr: Wenn das Kind am Ende 14 Tage in Quarantäne zu Hause sitzt, weil die Abstände in der Klasse nicht eingehalten werden, ist das vermutlich die größere Katastrophe, als wenn immerhin ein koordinierter Wechselbetrieb stattfindet.
Wolfgang Gerhardt, Schulleiter am Albert-Einstein-Gymnasium in Neukölln und stellvertretender Sprecher des Berliner Verbands der Oberstudiendirektoren, plädiert für einen Mittelweg zwischen Eigenverantwortlichkeit und dem Korsett des Stufenplans der Senatorin: „Das ist schon eine weitreichende Entscheidung, die man da trifft“, sagt Gerhardt, deshalb dürfe es auch keine einsame Entscheidung sein. „Aber ich wünsche mir, dass man uns sehr gut zuhört, wenn wir uns jede Woche mit dem Gesundheitsamt und der Schulaufsicht zusammensetzen – da braucht es mehr Mitspracherecht seitens der Schulleitungen.“
Das Einstein-Gymnasium war in der vergangenen Woche „rot“ eingestuft, als eine von sieben allgemein bildenden Schulen. Sehenden Auges sei das gewesen, sagt der Schulleiter: Die Maskenpflicht, die seit 18. November in Berlin für alle SchülerInnen ab Klasse 7 auch im Unterricht gilt, die kam aus seiner Sicht „viel zu spät“. Bei sieben Lerngruppen in Quarantäne zog die Schulaufsicht dann schließlich die Reißleine.
Mehr „Selbstverantwortung“ gelernt
„Wir wären eigentlich gerne schon früher ‚rot‘ gewesen“, sagt Gerhardt. Man habe seit dem Frühjahr „wahnsinnig viel ausprobiert“, nutze jetzt intensiv den digitalen Lernraum Berlin und verschiedene Apps, man habe die „Rhythmisierung“ mitgedacht für das Lernen zu Hause – und feste Deadlines eingezogen für die Abgabe von Hausaufgaben.
Er sagt, wie auch seine Kolleginnen in Pankow und Wilmersdorf: Die Jugendlichen hätten mehr „Selbstverantwortung“ gelernt. Sie seien selbständiger geworden. Und auch die LehrerInnen hätte das letztlich motiviert: „Die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, ist groß.“ Gerhardt sagt sogar: „Wir sehen jetzt, dass man Schule auch ganz anders denken kann.“ Gerhardt ist nicht für dauerhaften Wechselbetrieb, dafür sei die „Begegnung, der soziale Kontakt in der Schule“ zu wichtig.Aber er kann sich durchaus eine Schule vorstellen, die weggeht von dem starren System aus vormittags Präsenzunterricht und nachmittags Hausaufgaben, von einem fixen Stundenplan, von fest abgegrenzten Fachbereichen.
„Alles heilige Kühe“, sagt Gerhardt, klar. Aber wenn man eine „Vision für eine andere Schule“ ausprobieren könne, dann jetzt. Dafür müsse die Bildungsverwaltung aber von ihrem Mantra von der Präsenz als Regelbetrieb abrücken – und die Schulen machen lassen, die jetzt ausprobieren wollen, wie sich vielleicht mal die Zukunft anfühlen könnte.
Die SchülerInnen der Sekundarschule Wilmersdorf haben als Punkt 5 auf ihrer Unterschriftenliste pro Teilungsunterricht vermerkt: „Das Lernen zu Hause läuft gut. Die Lehrer sind immer ansprechbar.“ Das, muss man sehen, ist eigentlich für sich genommen schon eine halbe Revolution: Vor wenigen Monaten waren an den meisten Schulen selbst eigene E-Mail-Adressen für Lehrer undenkbar. Digital war irgendwie die Zukunft, jedenfalls nicht die Gegenwart, und deshalb furchtbar kompliziert.
Corona ist – auch wenn es besser wäre, diese Pandemie wäre nie passiert – der vielleicht spannendste Schulversuch seit Langem.
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