Berlins Senioren werden aktiv: Wir machen Politik, Alter!
Alle staunen über die Besetzung eines Seniorentreffs durch seine NutzerInnen. So überraschend ist sie aber nicht: Berlins Alte drängen längst aufs politische Parkett
Die Schließung war besiegelt, der Versteigerungstermin für das „Haus der Begegnung“ für Ende März anberaumt. Neben einem Ruderclub beherbergte die Köpenicker Villa an der Dahme mehr als 30 Rentnergruppen, die hier im „Kiezclub“ ihre Nachmittage verbrachten. Nun sollte der Bezirk das Haus abgeben, nachdem er Restitutionsansprüche der Jewish Claims Conference jahtrelang ignoriert hatte. Aber die Rentner und Ruderer riefen zum Protest.
Wie sich die Bilder gleichen: Nun harren in Pankow seit zehn Tagen rund 20 Rentner in ihrem Seniorentreff in der Stillen Straße aus. Der sollte eigentlich Ende Juni schließen. Jetzt ist er besetzt. Und die Öffentlichkeit staunt: Besetzende Rentner, hat man das schon mal gesehen?
So überraschend ist der Alten-Widerstand aber nicht. Siehe Köpenick. Siehe die Berliner Demonstrationen gegen Atomkraft und Neonazis, auf denen zuletzt auch viele Ältere Fahnen schwangen. Die Unterschriften zu den Volksbegehren für die Offenhaltung des Flughafen Tempelhofs und die Offenlegung der Wasserverträge – vielfach eingesammelt von Ruheständlern. Im Protestcamp am Kottbusser Tor gegen steigende Mieten protestieren viele Anwohner im Rentenalter mit. Und als die Berliner zuletzt gegen Fluglärm demonstrierten, ermittelten Sozialforscher des Göttinger Instituts für Demokratieforschung: Über 70 Prozent von ihnen waren älter als 45 Jahren, jeder fünfte war Rentner. Und ganze 95 Prozent der Befragten wünschten sich mehr direkte Beteiligung an politischen Entscheidungen. Die Alten sind zurück auf dem politischen Parkett Berlins.
„Es sind nicht mehr nur die Jungen, die Proteste dominieren“, konstatiert Simon Teune, Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Anders als früher beteiligten sich heute wieder mehr Ältere an Protesten, die sie zuvor durch Job und Familie eingestellt hatten. „Die Lebensphase Rente wird nicht mehr mit von dem Gefühl begleitet, das Leben sei vorbei, sondern von gesellschaftspolitischem Engagement.“ Dass das Besetzungen beeinhaltet, überrascht Teune nicht. Er verweist auf eine Befragung zu Stuttgart 21, darunter jede siebte ein Rentner: Über 90 Prozent hielten zivilen Ungehorsam für legitim. „Proteste werden heute allgemein konfrontativer geführt“, so Teune. „Das schließt die Alten ein.“
Auch Anne Dänner vom Verein Mehr Demokratie lobt die Senioren unter den Aktiven bei Berliner Volksbegehren als „sehr engagierte Gruppe“. „Viele natürlich, weil sie mehr Zeit haben.“ Nicht wenige Ältere, so Dänner, seien zudem politisch in den Sechzigern sozialisiert. „Die beschränken sich nicht aufs Web 2.0. Die gehen auf die Straße und machen.“ Die Berliner Fluglärm-Studie gibt Dänner recht: Hier waren viele der Protestler schon in den 60er und 70er Jahren politisch aktiv.
Auch in Wahlstatistiken liegen die Alt-Berliner vorn. Keine Gruppe beteiligt sich in der Hauptstadt mehr an Wahlen als die 60- bis 70-Jährigen, keine ist präsenter in den Parteien (siehe Kasten). Neuerdings sogar bei den Piraten. Dort hoben sechs Berliner Mitglieder vor zwei Wochen eine „Senioren AG“ aus der Taufe. Deren Gründer, Gerd Lindenblatt, entschied sich zu Jahresbeginn zum Parteieintritt – mit 66 Jahren. Die Partei stehe für Freiheit und klüngele nicht in Hinterzimmern, sagt Lindenblatt. Der einstige DDR-Bürger engagierte sich schon im Neuen Forum. Aufhören mit der Politik? Lindenblatt denkt nicht dran: „Im Gegenteil, jetzt hab ich die Zeit, noch ein paar Jahre richtig mitzumischen.“
Eins der ersten Themen der piratischen Senioren AG: die Stille Straße. Hier muss Lindenblatt gleich in die innerparteiliche Opposition. Denn die Pankower Piraten sind für die Schließung des Rentnertreffs. „Eine gewachsene Gemeinschaft reißt man nicht auseinander“, findet hingegen Lindenblatt. Die Kostenschätzungen des Bezirks seien „maßlos übertrieben“. Darüber werde man auch die eigenen Abgeordneten nochmal informieren.
Mitten im Leben
Doris Syrbe, Wortführerin der Pankower Senior-Besetzer, gibt sich selbstbewusst. Ihre Altersgenossen seien nicht mehr „die Omas vor 30 Jahren, die auf der Ofenbank sitzen und Socken für die Enkel stricken“. Eigentlich, so die 72-Jährige, stehe man „noch mitten im Leben“. Syrbe glaubt, die Besetzung werde „Schule machen, auch bei älteren Bürgern“.
Gar nicht so unwahrscheinlich. Beim Landesseniorenbeirat jedenfalls beobachtet man die Pankower aufmerksam. Von der Besetzung, sagt Jens Friedrich, 68-jähriges Beiratsmitglied, habe man „mit Interesse gehört“. „Hier haben sich die Älteren mal richtig Gehör verschafft.“
Auch Friedrich bemerkt das wachsende Engagement seiner Altersgruppe. Die Älteren seien allgemein aktiver, mischten sich in ihr Lebensumfeld mehr ein, seien wieder mehr in Parteien engagiert. „Und das selbstbewusst“, betont Friedrich, früher Abteilungsleiter bei der BSR. „Wir haben überall hin unsere Kontakte, aber vereinnahmen lassen wir uns nicht.“
In Köpenicker „Haus der Begegnung“ zogen die Protestler am Ende mit der Politik an einem Strang. Das Bezirksamt verkaufte andere Grundstücke, sammelte Spenden ein und zahlte der Claims Conference eine Abfindung. Das Haus war gerettet. Das war Ende Juni – zehn Tage vor der Hausbesetzung in Pankow.
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