Berlins Religionssenator Lederer (Linke): „Die Menschen suchen nach Sinn“
Er sei „kein gläubiger Mensch im religiösen Sinne“, sagt Klaus Lederer. Dennoch ist er für Religion zuständig. Ein Gespräch über Kopftücher, die Bibel und den Kirchentag.
taz: Grüß Gott, Herr Lederer.
Klaus Lederer: (lacht) Wenn du ihn triffst, wie der Berliner sagt.
Das klingt nicht so, als ob Sie an Gott glauben.
Ich bin in der Tat kein gläubiger Mensch im religiösen Sinn.
Glauben Sie an irgendetwas anderes?
Es gibt Ausnahmesituationen im Leben, in denen man sich grundsätzlichere Fragen stellt, feststellt, dass manche Dinge rational schwer fassbar sind – ob man das dann Glauben nennt, ist eine andere Sache. Und es ist ja kein Privileg der Religionsgemeinschaften, Menschen dabei eine Orientierung zu geben. Kurz gesagt: Ich würde mich nicht als ungläubig bezeichnen, aber ich bin kein religiöser Mensch.
Glauben Sie an irgendetwas nach dem Tod?
Es gibt nichts danach, der Tod ist das Ende.
Können Sie nachvollziehen, dass Menschen an sehr viel verschiedene, teilweise abstruse Götter glauben?
Menschen suchen nach Orientierung, nach Regeln, Normen. Und da gibt es im Supermarkt der großen Ansichten eine riesige Auswahl.
43, ist seit Dezember 2016 Senator für Kultur und Europa und in dieser Funktion auch für Religion(en) zuständig. Zuvor war er zwölf Jahre Landesvorsitzender der Linkspartei gewesen. Lederer lebt mit seinem Lebenspartner in Prenzlauer Berg.
Und Sie sind in diesem Supermarkt als Religionssenator so eine Art Regionalbetreuer?
Das Bild ist schief. Meine Rolle besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Staat den Menschen die Freiräume lässt, in denen sie die von ihnen für sich als richtig erkannten Wertvorstellungen und Glaubensformen praktizieren undleben können.
Ist es da eher ein Vorteil, wenn der Religionssenator keiner Religionsgemeinschaft angehört? So wie es für einen Schiedsrichter auch nicht passen würde, bei einem Spiel zu pfeifen, bei dem seine eigene Mannschaft antritt?
Das würde ich nicht ganz so sagen. Die entscheidende Frage ist, ob Menschen von ihrer individuellen Weltanschauung oder Religion so weit abstrahieren können, dass sie in der Lage sind, anderen Religionen dieselbe grundsätzliche Legitimität zuzubilligen wie der eigenen. Staat und Kirche sind im mitteleuropäischen Kulturkreis schon einige Zeit getrennt – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. In einer multireligiösen Gesellschaft mit unterschiedlichen religiösen Herangehensweisen – und eben auch nichtreligiösen – ist es eine Grundvoraussetzung friedlichen Zusammenlebens, sich gegenseitig auszuhalten.
Sie sprechen von Trennung von Staat und Kirche. Aber viele Leute sagen: Ist doch gar nicht so. Sie selbst haben im Abgeordnetenhaus ausgeführt,Deutschland sei ein kirchenfreundlicher Staat, anders als das laizistische Frankreich. Nehmen wir bloß mal die Kirchensteuer, die der Staat einzieht.
Die Situation hat sich ja gegenüber vor 100 Jahren dahingehend geändert, dass es nicht mehr nur zwei Amtskirchen gibt – die katholische und die evangelische – und sonst nicht viel. Das Eintreiben der Kirchensteuer, also der vom Staat übernommene Einzug der Mitgliedsbeiträge …
… den sich der Staat als Dienstleistung bezahlen lässt …
… ist aber trotzdem überkommen, und ich stelle das durchaus infrage. Ich bin der Ansicht, dass auch hier das grundsätzliche Prinzip „Alle oder keiner“ gilt: Wenn eine Religionsgemeinschaft bestimmte Vorrechte in Anspruch nehmen kann, dann muss das grundsätzlich allen anderen auch zugebilligt werden. Die Amtskirchen haben sich aus einer seinerzeit starken Stellung heraus in der Weimarer Reichsverfassung Rechte zusichern lassen, die nicht per se der Sicherung der Religionsfreiheit dienen, wie wir sie heute verstehen.
Wie nämlich?
Den Menschen Freiräume zum Glauben zu lassen und zu verhindern, dass eine Religionsgemeinschaft in der Weise übergriffig wird, dass anderen ein bestimmter Glaube oder Nicht-Glauben aufgedrängt wird. Es geht wie so oft um den Ausgleich von Sichtweisen in einer offenen Gesellschaft, der immer wieder neu justiert werden muss.
Religion und Glaubensbekundungen sind teils auch mit äußeren Einflüssen verbunden, die in den öffentliche Raum reingeht – Geläut von Kirchenglocken oder Muezzinrufe.
Grundsätzlich kann ich eine offene und freie Gesellschaft nur aufrechterhalten, wenn ich bereit bin, den Menschen auch Zumutungen abzuverlangen. Niemand hat das Recht, in einer Gesellschaft zu leben, die nach seinen eigenen Wertvorstellungen eingerichtet ist, sei es religiösen oder weltanschaulichen. Die Religionsfreiheit garantiert nicht nur, seine Religion im stillen Kämmerlein ausüben zu dürfen – sie bezieht auch ein, dass man sich in der Öffentlichkeit zu seinem Glauben bekennen kann. Das gilt für den Muezzinruf genauso wie für das Läuten der Kirchenglocken, und es gibt kein Recht, davon verschont zu werden.
Das gilt ohne Einschränkungen?
Die Grenze ist immer da überschritten, wo ich religiöse Bekenntnisse in einer so aggressiven Art aufgedrückt bekomme, dass ich keinerlei Möglichkeit habe, mich denen zu entziehen.
Kirchenglocken und Muezzin: Ist das für Sie eine ähnliche Form religiöser Artikulation?
Vom Prinzip her ja.
Wenn eine muslimische Gemeinde einen fünfmaligen Muezzinruf pro Tag beantragen würde, würden Sie dem offen gegenüberstehen?
Das hängt vom konkreten Fall ab, von Reichweite oder Örtlichkeiten. Das abzuwägen ist eine Frage, die nicht nur durch staatliche Institutionen geleistet werden kann. Da spielen auch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse eine Rolle.
Dabei hat doch Kirchenläuten keine praktische Funktion mehr – die Leute haben Uhren und brauchen keine Glocken, die sie an den Gottesdienst erinnern. Auch den Muezzin kann eine Handy-App ersetzen.
Der Staat ist nicht der Erziehungsberechtigte der Religionsgemeinschaften …
Am heutigen Mittwoch startet der Evangelische Kirchentag rund ums Brandenburger Tor und auf dem Messegelände. Einer der Höhepunkte des bis Sonntag dauernden Programms ist ein Gespräch zwischen dem Ex-US-Präsidenten Barack Obama und Kanzlerin Angela Merkel (Donnerstag, 11 Uhr, Brandenburger Tor).
Die Polizei will die Sicherheitsmaßnahmen nach dem Anschlag von Manchester noch einmal überprüfen. Aufgrund der Terrorgefahr gelten ohnehin strengere Sicherheitsvorkehrungen. (taz)
… aber für die öffentliche Ordnung zuständig.
Aber dazu gehört nicht, den Religionsgemeinschaften vorzuschreiben, was zeitgemäß ist und was nicht. Der Staat hat nur darauf zu achten, dass das im Einklang und Ausgleich mit anderen Verfassungsgütern geschieht. Wo diese Auseinandersetzung exemplarisch geführt wird, ist beim Streit um das Neutralitätsgesetz. Es ist völlig unumstritten, dass das Aufhängen eines Kruzifixes in einem Klassenraum unzulässig ist …
… in Berlin ja, in Bayern nicht.
Dass es Bundesländer gibt, in denen damit sehr locker umgegangen wird, entspricht eigentlich nicht der verfassungsmäßigen Grundanordnung. Staatliche Räume sind freizuhalten von allem, was den Eindruck der Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Glaubensrichtungen hervorrufen kann.
Und was ist mit Lehrerinnen?
Am Anfang der Debatte hieß es: Wenn es keine Kruzifixe in den Klassen gibt, dürfen auch Lehrerinnen in staatlichen Schulen kein Kopftuch tragen. Aber man muss unterscheiden zwischen staatlichen Einrichtungen und Menschen, die auch als Staatsangestellte nicht sämtliche Grundrechte verlieren. Natürlich müssen sie sich zurückhalten – dafür gibt es das Mäßigungsgebot für Beamte. Aber sie dürfen eine eigene Meinung haben und eine eigene Religion – und die dürfen sie auch ausüben und sich zu ihr bekennen.
Ein echter Spagat.
Die Frage ist: Wie sichert ein neutraler, aber religionsfreundlicher Staat angesichts der vielen verschiedenen Religionen den Schulfrieden? Wie verhindert man, dass das Verhalten von Lehrkräften zu Auseinandersetzungen führt?
Ob und welche Überzeugung unter einem Kopftuch steckt, kann ein Staat nicht prüfen. Darf eine nette Muslima also künftig ein Kopftuch tragen, eine islamistische hingegen nicht?
Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass einer Lehrerin der Schuldienst nicht wegen des Kopftuchs an sich und ohne gesetzliche Grundlage versagt werden darf. Wenn der Staat in die Grundrechte dieser Frau eingreifen will, muss er eine gesetzliche Grundlage dafür schaffen. Das war der Ausgangspunkt einer sehr hysterischen Debatte, die auch in Berlin den Reflex hervorrief, ein Kopftuchverbot erlassen zu wollen. Dabei war klar: Ein Verbot müsste für alle religiösen Symbole gelten.
Wobei offen ist, wann ein Kreuz am Hals religiöses Symbol und wann Schmuck ist.
Aber auch wenn das klar ist: Das Verbot religiöser Symbole darf nach diesem Urteil nicht absolut erfolgen und dazu führen, dass das Bekenntnis zu einer Religion durch Lehrkräfte an Schulen prinzipiell verboten ist. Deswegen stellte sich die Frage, ob das Berliner Neutralitätsgesetz haltbar ist. Das Arbeitsgericht hat geurteilt, dass es nicht verfassungswidrig ist, aber verfassungskonform ausgelegt werden muss: Es muss einen konkreten Anknüpfungspunkt geben, dass der Schulfrieden gestört sein könnte durch das Tragen eines religiösen Symbols.
Wer schätzt das denn ein: die Schule, die Senatsverwaltung?
Am Ende sind die wichtigen Fragen: Was fördert die Integration? Was kann ich von Lehrkräften erwarten? Und was muss ich schulorganisatorisch tun, damit es Menschen dort trotz ihrer unterschiedlichen Bekenntnisse miteinander aushalten? Das funktioniert nicht an allen Schulen gleich. Ich glaube, dass man das alles nur begrenzt mit Regeln regeln kann.
Ein bemerkenswerter Satz für einen Juristen!
Ich bin kein Jurist, der in seinem Kämmerlein sitzt und Gesetzbücher wälzt – und der Allmachtsfantasie unterliegt, dass sich das gesellschaftliche Leben durch Normen, Regeln und Gerichte bis ins letzte Detail steuern ließe. Recht ist nur ein Steuerungsmedium in einer modernen Gesellschaft. Wir leben in einem Land der Meinungs- und Glaubensfreiheit und wir haben Grundrechte, die explizit staatsfreie Räume definieren.
Wo ist eigentlich die Trennung von Staat und Kirche beim Kirchentag? Der wird vom Senat mitfinanziert.
Ein interreligiös und diskursiv ausgerichtetes Kulturereignis wie den Kirchentag kann man durchaus mit öffentlichen Geldern unterstützen. Das muss dann aber für Veranstaltungen anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auch gelten.
Sie selbst beteiligen sich auf mehreren Veranstaltungen beim Kirchentag, etwa mit „Dialogbibelarbeit“. Was passiert da?
Wir befassen uns mit Bibelauszügen und diskutieren darüber, wie sie aus einer religiösen – und eben auch einer nichtreligiösen –Perspektive zu interpretieren sind und was daran aktuell ist.
Welche Stelle haben Sie sich ausgesucht?
Mir wurde eine vorgegeben aus dem Lukas-Evangelium. Es würde mir schwerfallen, sie zu zitieren, aber ich weiß, wo sie steht.
Kannten Sie die Stelle vorher?
Nein.
Testen wir mal Ihre Bibelfestigkeit mit ein paar Stellen, bei denen wir immer an die Linkspartei denken müssen. Erst mal jene zum bedingungslosen Grundeinkommen …
„Sehet die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht …
… und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“ Matthäus-Evangelium, Kapitel 6, Vers 26 – könnte aber auch von Ihnen stammen, wenn man himmlischer Vater durch Staat ersetzt.
… oder durch Gesellschaft. Das Spannende ist ja, dass die Bibel in einer Zeit starker Umbrüche entstanden ist aus einem Konflikt zwischen Juden und römischen Besatzern, in einer Zeit mit viel Hunger, Elend und Not. Es wundert mich daher wenig, dass sich diese Einflüsse auch in den Texten niederschlagen. Für religiöse Menschen ist die Bibel Gottes Wort, für mich ist es ein unfassbar großes Stück Literatur, in dem sich viele Strömungen jener Zeit niedergeschlagen haben, reaktionäre wie fortschrittliche.
Noch so ein Linke-affines Zitat: Eher geht ein Kamel durch …
… ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.
Genauer: in das Reich Gottes gelangt. Hat etwas Klassenkämpferisches.
Bibel, Thora und Koran gehören zum kulturellen Erbe der modernen offenen Gesellschaften des Westens. Und es ist spannend, wie sich religiöse und nichtreligiöse Menschen diese Texte heute aneignen. Das Tolle am Kirchentag ist, dass auch Atheisten dort auftreten – das wäre vor 50 Jahren undenkbar gewesen.
Wie passt da hinein der Marx-Satz: Religion ist das Opium des Volks?
Die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert war extrem areligiös, sogar religionsfeindlich. Sie hat den institutionellen Einfluss der Kirche sowie deren Anspruch, über viele gesellschaftliche Fragen das entscheidende Wort zu führen, bestritten. Insofern kennzeichnet Religion als Opium des Volks die damaligen Verhältnisse. Heute hat sich Religion sehr säkularisiert. Und der damalige Fortschrittsglaube, dass sich alle Fragen durch Technologie lösen ließen und die Sinnsuche erledigen würde, hat sich so nicht erfüllt.
Das Marx-Zitat weist keine Bezüge mehr zur Gegenwart auf?
Marx bezog sich auf die Jenseitsflucht aus dem irdischen Jammertal. Die ist heute so falsch wie damals. Aber: Es gibt die Sinnsuche, es gibt dieses Moment, für das Erklärungen im Diesseits schwer zu finden sind. Menschen suchen diesen Sinn auf unterschiedliche Art und Weise. Dagegen kann ein Linker heutzutage nichts sagen.
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