Berliner Straßenumbenennung: Weg mit den kolonialen Spuren
taz-Serie „Was macht eigentlich …“: In Berlin sollen Straßen mit antisemitischen, rassistischen oder kolonialen Bezügen umbenannt werden.
Tahir Della ist Vorstandsvorsitzender von Decolonize Berlin und schaut auf das Straßenschild, auf dem der Name des Mannes prangt, der als Begründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ gilt: Carl Peters. „Aus pragmatischen Gründen wartet das Bezirksamt mit der Umbenennung der gesamten Straße, bis das Gericht über die Klage entschieden hat“, erklärt er. Das Berliner Straßengesetz erlaubt Umbenennungen von Straßen, die nach Wegbereitern des NS-Regimes, der DDR oder von Kolonialismus und Sklaverei benannt sind oder nach in diesem Zusammenhang stehenden Orten, Symbolen oder Begriffen.
Für Della ist diese Praxis Teil der Dekolonisierung. Decolonize Berlin entwickelt daher ein gesamtstädtisches Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzept zur Geschichte und zu den Folgen des Kolonialismus in Berlin. Ob sich in diesem Bereich mit der neuen Landesregierung etwas geändert hat? „Das wird sich noch zeigen, insbesondere daran, wie sich die finanzielle Unterfütterung gestaltet“, sagt Della. Er fordert die politischen Verantwortlichen auf, das Thema ernst zu nehmen, das sei nichts, was man schnell abhaken kann.
Für Kultursenator Joe Chiallo (CDU) ist die Sache klar: „Wenn wir uns mit dem Thema der Kolonialgeschichte auseinandersetzen, muss dies immer im Dialog mit Nachfahren der Opfer der Kolonialherrschaft, der Zivilgesellschaft und den politischen Akteuren vor Ort geschehen“, sagt er zur taz. Umbenennungen von Straßen hält er aber nicht pauschal für das Mittel der Wahl. Zwar gebe es Fälle, „wo der Namensgeber dermaßen belastet ist“, dass es gar nicht anders gehe als mit einer Umbenennung, wie etwa bei der Petersallee. „In anderen Fällen mag eine Markierung im Stadtraum besser sein, die eine Kontextualisierung herstellt, aufklärt, vermittelt. Beispiel: Die Mohrenstraße – das ist für mich eine ‚Erinnerungsstraße‘“, sagt Chiallo. Damit vertritt er eine andere Meinung als das zuständige Bezirksamt.
Das Afrikanische Viertel
In Berlin wird über die Umbenennung von Straßen mit kolonial-rassistischen Bezügen schon seit langem hitzig gestritten. Dekoloniale und antirassistische Gruppen setzen sich seit rund 40 Jahren für eine Umbenennung von Straßen im Afrikanischen Viertel ein. 2018 dann wurden vier neue Straßennamen beschlossen. Doch seitens der Anwohner*innen gab es Proteste, 200 Gewerbetreibende legten Widerspruch dagegen ein.
Vor rund einem Jahr dann wurden zwei Straßen feierlich umbenannt. Statt der Männer, die im 19. Jahrhundert mit Gewalt und Betrug deutsche Kolonien im heutigen Namibia (Adolf Lüderitz) sowie Kamerun und Togo (Gustav Nachtigal) „gründeten“, erinnern die Straßen heute an Cornelius Fredericks und Rudolf Duala Manga Bell. Fredericks war im militärischen Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in „Deutsch-Südwestafrika“ aktiv und wurde während des Genozids in einem Konzentrationslager nahe der Stadt Lüderitz – die immer noch so heißt – ermordet. König Rudolf Duala Manga Bell aus dem heutigen Kamerun hatte Petitionen gegen die Vertreibung der Duala geschrieben und wurde 1914 von den Deutschen gehängt.
Die Petersallee wurde 1986 zwar „umgewidmet“, trotzdem verbinden die wenigsten mit ihr den Berliner Stadtrat Hans Peters (CDU). Zumal die Umwidmung nie rechtskräftig geworden ist. Der ursprüngliche Namensgeber Carl Peters hatte die deutsche Kolonisierung von Ostafrika, heute Tansania (ohne Sansibar), Burundi und Ruanda, gewaltsam vorangetrieben und dabei zahlreiche Menschen ermorden lassen.
Wann die Umbenennung in Anna Mugunda, die in Namibia gegen die Apartheid kämpfte und Maji-Maji (Swahili für Wasser), dem Schlachtruf, nach dem die Widerstandsbewegung gegen den Kolonialismus in Tansania benannt ist, umgesetzt werden kann, ist noch unklar. Laut dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg sei derzeit nicht absehbar, wann über diesen Antrag entschieden wird.
„Häufig werden diese Straßenumbenennungen als Maßnahme betrachtet, sich einer Geschichte zu entledigen. Doch das kann nur ein Startpunkt sein, um sich als Zivilgesellschaft mit den kolonialen Prägungen der Stadt zu beschäftigen“, sagt Tahir Della von Decolonize Berlin der taz. Die Umbenennungen sollten einen Perspektivwechsel einleiten, der nicht die kolonialen Verbrecher ehre, sondern jene, die sich schon damals gegen Unterdrückung und Rassismus stellten. „Seitens der Menschen, die die alten Straßennamen behalten wollen, wird immer versucht zu relativieren. Ein Gustav Nachtigal wird dann als harmloser Afrikaforscher bezeichnet, statt als Wegbereiter des Kolonialismus“, kritisiert Della.
Der Nettelbeckplatz
Dies lässt sich auch an anderer Stelle beobachten. Rund vier Kilometer entfernt vom Afrikanischen Viertel liegt der Nettelbeckplatz. Joachim Christian Nettelbeck war im 18. Jahrhundert als junger Seemann aktiv am Versklavungshandel beteiligt und betrieb Koloniallobbyismus. Nach dem Berliner Straßengesetz ein klarer Fall. Doch unter den Vorschlägen für Straßennamen findet sich online mehrfach der alte Name wieder. Die Begründung: Nettelbeck habe sich später vom Sklavenhandel distanziert. Dabei hatte er lediglich geschrieben, dass er selbst keine Grausamkeiten verübt hätte. Und: „Vor 50 Jahren war und galt dieser böse Menschenhandel als ein Gewerbe wie andere.“
Auch hier verzögert sich zurzeit das Umbenennungsverfahren. Laut Bezirksamt Mitte liegt das an der aktuell verhängten Haushaltssperre. Eigentlich soll ein Gremium aus den eingegangenen Vorschlägen drei Namen auswählen und dem Ausschuss für Weiterbildung und Kultur der Bezirksverordnetenversammlung vorschlagen, der dann einen neuen Namen beschließen kann. „Voraussichtlich kann das Gremium zu Beginn des kommenden Jahres tagen“, so ein Sprecher zur taz. Dieses Gremium wähle dann aus den eingegangenen Vorschlägen drei Namen aus und schlage sie dem Ausschuss für Weiterbildung und Kultur der Bezirksverordnetenversammlung vor, dieser könne dann einen Beschluss vornehmen. Da der Platz keine Adresse ist, ist ein Widerspruch oder eine Klage in diesem Fall unzulässig. Dazu sind nur Anwohner*innen berechtigt.
Die M*Straße
Auch die 2021 beschlossene Umbenennung der Mohrenstraße in Mitte konnte noch nicht umgesetzt werden. Zwar hatte das Verwaltungsgericht im Juli die Klagen von Anwohnern abgewiesen. Nun ist – wie bei der Petersallee – ein Antrag auf Zulassung der Berufung anhängig. Auch hier sei nicht absehbar, wann über den Antrag entschieden werde, heißt es vom Gericht. Die Ausgangslage ist hier eine etwas andere, weil es nicht um eine konkrete Person geht, sondern um den rassistischen Begriff Mohr, folgend mit M* abgekürzt.
„Zahlreiche Untersuchungen, auch unseres Instituts, zeigen, dass die wahrscheinlich 1706 erfolgte Namensgebung ‚M*straße‘ in die Zeit der brandenburgisch-preußischen Kolonialunternehmungen sowie in die damit verflochtene, gewaltvolle Geschichte des Sklavenhandels zurückreicht“, heißt es in einem Offenen Brief der Nachbarschaftsinitiative Anton Wilhelm Amo-Straße. Die Initiative geht vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität aus, das in der Straße ansässig ist. Künftig soll die Straße nach dem Schwarzen deutschen Philosophen Anton Wilhelm Amo benannt werden, der als Kind aus dem heutigen Ghana verschleppt und 1707 von der holländischen Ostindien-Kompanie dem Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel „geschenkt“ wurde, wo er als Kammerm* dienen musste.
Der Historiker Götz Aly bezeichnet die geplante Umbenennung als „Geschichtsfrevel“: „Straßen hat man nicht in herabsetzender Absicht benannt“, sagt er der taz. Aly hatte in der Berliner Zeitung zum Widerspruch gegen die Umbenennung aufgerufen, mehr als 1.000 gingen daraufhin beim Bezirksamt ein – davon allerdings nur 30 von Anwohner*innen. Sieben von ihnen zogen vor Gericht, der Einfachheit halber wird Alys Klage als Musterklage verwendet, die im Juli dieses Jahres abgewiesen wurde. Da die Berufung aufschiebende Wirkung hat, konnte die Straße noch nicht umbenannt werden.
Für Tahir Della spielt die Intention der Benennung keine entscheidende Rolle. Für ihn ist vielmehr der Ist-Zustand relevant. „Und heute gilt der Begriff M* als rassistisch“, sagt er. Götz Aly hatte sich nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eigentlich nicht mehr an der Debatte beteiligen wollen. Doch angesichts der Lage in Nahost hat er seine Meinung geändert: „Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat sich sehr deutlich herausgestellt, wie stark einzelne Decolonize-Initiativen antisemitisch unterwandert sind“, sagt er. Deshalb wolle er nun erneut an das Gericht schreiben, und fragen, ob das Bezirksamt diese Gruppierungen zu Recht als allein anzuhörende „zivilgesellschaftliche Organisationen“ eingestuft habe.
„Der Prozess der Dekolonisierung muss zu einer gerechten und diskriminierungsfreien Gesellschaft führen“, sagt Tahir Della. Dies beinhalte auch, antisemitischem Gedankengut entschieden entgegenzutreten. „Im Übrigen stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die Kritiker*innen der Dekolonisierung mit diesem Argument auftreten – geht es ihnen wirklich darum, dass die kolonialen Kontinuitäten bearbeitet werden oder eher darum, dass die Verhältnisse so bleiben wie sie sind?“, fragt er. Er ist überzeugt, dass die beschlossenen Umbenennungen der Straßen in Wedding stattfinden werden. Wann es soweit ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt.
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