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Berliner Mieter sollen fünf Milliarden Mark zahlen

■ Der neue Senat will mit dem Verkauf städtischer Wohnungen nun Ernst machen

Die Nachricht kam am 11. November, doch für die Mieter war es kein Faschingsscherz. Vor genau einem Jahr brach Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD) mit einer heiligen Tradition der Berliner Sozialdemokratie. Erstmals verkaufte das Land seine Anteile an einer der großen Berliner Wohnungsbaugesellschaften, der Gehag mit rund 30.000 Wohnungen, an einen privaten Investor. Für 50 Prozent der Gehag-Anteile zahlten die Rinteln-Stadthagener Eisenbahn-Aktiengesellschaft (RSE) und die Hamburgische Landesbank rund 650 Millionen Mark.

Diese Transaktion war erst der Anfang. In den kommenden Jahren wird sich noch ein weit größerer Anteil der Mieter in den 442.000 städtischen Wohnungen mit dem Gedanken anfreunden müssen, nicht mehr behütet bei Vater Staat zu wohnen. Fast fünf Milliarden Mark will die Finanzsenatorin in diesem und im kommenden Jahr aus der „Vermögensaktivierung“ einnehmen. Weil die Gas-, Wasser- und Stromversorgung bereits verkauft ist, bleiben dafür fast nur noch die Wohnungsbaugesellschaften.

Im Wahljahr 1999 ist der Verkauf nicht ohne Grund ins Stocken geraten. Ein sicherer Mietvertrag bis ans Lebensende bei einer der 16 städtischen Wohnungsbaugesellschaften – das zählt in Berlin, der Mieterstadt par excellence, so viel wie im Schwabenland ein Eigenheim. Fast jede vierte Berliner Wohnung gehört der Stadt.

Die sozialdemokratische Basis rebellierte gegen die Privatisierungspolitik, und die Union ging mit Parolen gegen einen Komplettverkauf der Gesellschaften auf Stimmenfang. Der Senat mogelte sich mit einer Scheinlösung durch: Die städtischen Gesellschaften kauften sich kurzerhand gegenseitig. Auf diese Weise zog die Landeskasse knapp 900 Millionen Mark aus den Wohnungsfirmen ab. Um dieses Geld aufzubringen, mussten die Gesellschaften nötige Instandsetzungen verschieben oder sogar Teile ihres Wohnungsbestandes verkaufen.

Derzeit aber sind die Immobilienpreise in der Hauptstadt so niedrig wie noch nie seit der Wende. Wirft der Senat zigtausende von Wohnungen auf den Markt, könnten sie weiter sinken. Für welchen Preis die Gesellschaften über den Tisch gehen könnten – darüber schweigt sich der Senat wohlweislich aus. Ralph Bollmann

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