Berliner Elternsprecher über Schulen und Eltern: "Die Grundschulen bringens nicht"
Gute Schule, doofe Eltern? Berlins oberster Elternsprecher André Schindler sieht allein die Schulen in der Pflicht, "Schüler zu fördern, die zu Hause keine Hilfe erhalten".
taz: Herr Schindler, warum sind Eltern immer dagegen?
André Schindler: Gegen was sind denn Eltern?
Wenn irgendwo eine Schulreform beginnt, stehen die Eltern auf und sagen: Nicht mit uns!
So kann man das nicht sehen. Eltern sind durchaus zu überzeugen, wenn sich Schulreformen positiv auf die Situation der Kinder auswirkt.
Egal, in welches Bundesland sie schauen, in dem die dreigliedrige Schulstruktur vereinfacht wird: Bildungsexperten und Armutsforscher sind grundsätzlich dafür, in Hamburg steht eine parteiübergreifende Enquetekommission hinter dem Modell von Gymnasium und Stadtteilschule - aber die Eltern gehen dagegen auf die Straße.
Eltern sind eben kritisch, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Ansonsten denken Eltern positiv.
Sie in Berlin haben sogar ultimativ das Ende der Strukturdebatte verlangt. Wollen Sie keine bessere Schule?
Doch. Wir Berliner Elternvertreter haben in unserem Landesausschuss gesagt: Das Ziel einer Schulreform muss bessere Qualität sein. Eine Strukturveränderung allein kann das nicht schaffen. Wenn ich die heutige Berliner Hauptschule morgen Sekundarschule nenne, ist dem einzelnen Schüler noch nicht geholfen.
Sie wissen, dass es keine isolierte Strukturreform gibt. Der Senat bietet Fortbildungen für Lehrer an. Und Bildungssenator Jürgen Zöllner setzt die Reform keineswegs brachial durch, sondern gibt Zweiflern Zeit.
Der Senator geht den Weg des geringsten Widerstandes. Er weicht das Konzept der individuellen Förderung immer weiter auf.
Immerhin, er steht hinter der Idee des binnendifferenzierten Lernens.
In der Theorie.
Sie sind ein erbitterter Gegner eines historischen Schritts: Behutsam die Trennung der Schüler in verschiedene Schulformen aufzuheben.
Seit es Schulen gibt, finden sie Bestrebungen, sie besser zu machen. Was sich in der Schule ändern muss, steht aber meistens vor der Tafel.
Sie meinen die Lehrer?
Ja, es gibt natürlich gute Lehrer, mit denen die Gemeinschaftsschule funktionieren würde. Lehrer, die Kinder individuell fördern und fordern - weil sie das Konzept der inneren Differenzierung leben. Aber es gibt auch schlechte Lehrer.
Die Lehrer sollen das Problem der Schule sein?
Ja, einige Lehrer, aber auch Schulleiter. Obendrein unterstützt die Politik die Schule nicht ausreichend.
Was meinen Sie damit?
Nehmen wir einen Schulleiter. Er muss dafür sorgen, dass sich der Unterricht verbessert. Was ist aber, wenn er nicht will? Oder wenn er es nicht umsetzen kann, weil ihm die Stellen und die Räume fehlen? Oder wenn ein Teil seiner Lehrer gar nicht mitmachen will? Oder wenn er keine Führungsqualitäten hat?
Ja, was passiert denn?
Dann kann keine Schul- oder Unterrichtsform gelingen. Nehmen sie den jahrgangsübergreifenden Unterricht. Wir wissen alle, dass der Schüler Vorteile davon hätte - wenn es entsprechend umgesetzt werden würde. Was ist aber, wenn der Schulleiter der Meinung ist, dieses Konzept kann gar nicht funktionieren?
Wieso fragen Sie immer nur? Sie sind einer der wichtigsten Akteure der Schulreform in Berlin. Was schlagen Sie vor, um den armen Lehrern zu helfen?
Mehr Eigenständigkeit für die Schule. Ein Schulleiter muss wesentlich mehr Kompetenzen über sein eigenes Personal erhalten. Es kann auch nicht sein, dass ein Schulleiter oder Lehrer stets an der gleichen Schule bleibt. Ich bin für Rotation. Und wenn ein Schulleiter oder ein Lehrer keine Veränderungen will, ja, dann muss man ihn halt aus der Schule herausnehmen.
In den Hauptschulen der Stadt sind 7 von 10 Schülern praktisch nicht lesefähig. Ist das akzeptabel, Herr Schindler?
Das Problem ist nicht die Hauptschule. Unsere Grundschulen bringen nicht die Leistung, die sie bringen sollten. Wir haben eine sechsjährige Grundschule, alle Schüler lernen zusammen. Aber wir kümmern uns gar nicht um sie! Ich habe einen Fünftklässler gesehen, der das kleine Einmaleins noch nicht konnte.
Was tut der oberste Elternvertreter Berlins, um die skandalös hohe Zahl an Risikoschülern zu senken?
Ich weise auf die Schwachpunkte und die Defizite hin. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Schüler zur Schule kommen, die bereits großen Rückstand haben. Die Grundschule muss dafür sorgen, dass Schüler problemlos weiterlernen können.
Die Unterschiede werden auch schon vor der Schule gemacht - von den Eltern.
Wir können doch ein Kind, das mit fünf oder sechs Jahren in die Schule kommt, nicht als Risiko ansehen! Die Schule hat die Aufgabe, grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln - und das schafft sie nicht. Die Kinder werden also in der Grundschule zu Risikoschülern gemacht. Unser Ziel muss es aber sein, dass auch Schüler gefördert werden, die keine Hilfe von Zuhause erhalten. Dies muss der Bildungssenator gewährleisten.
Wieso stellen Sie nicht dieselben Ansprüche an die, die Sie gewählt haben - die Eltern? Die haben eine Mitverantwortung.
Weil das unbestritten ist und weil das auch immer wieder gesagt wird. Aber wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, dass auch Kinder von Eltern, die nicht klarkommen, eine Chance haben.
Der Senator bringt seine Grundschulen nicht auf Vordermann - und Sie kümmern sich nicht um die Eltern. Zusammen produzieren sie die Berliner Bildungsarmut.
Wir kommen nicht darum herum, dass es immer wieder Ausfälle geben wird. Aber irgendjemand muss doch diese Kinder auffangen. Das machen übrigens auch Eltern als Lesepaten. Der Verein Berliner Kaufleute hat so ein Projekt. Jetzt gibt es das Programm "teach first".
Es finden sich Dutzende Programme. Aber gibt es irgendeine Initiative, mit der die Landeselternvertretung überforderten Eltern hilft?
Wir sind ein kleines Gremium von 24 Ehrenamtlichen. Wir geben den Eltern vor Ort Infomaterial an die Hand, führen Veranstaltungen durch, stehen als Ansprechpartner zur Verfügung. Das machen wir nicht alles selber, sondern beziehen auch Elternsprecher im Bezirk und in der einzelnen Schule mit ein. Die erklären zum Beispiel Eltern in sozialen Brennpunkten, wie man die Elternarbeit und die Kommunikation mit der Schule verbessern kann.
Sie wissen doch, dass Schule in den sozialen Brennpunkten der Stadt nur dann gelingen kann, wenn man Erziehungskurse anbietet. Wenn man der Mama von Ali und dem Vater von Kevin zeigt: "Kümmer dich um dein Kind, du kannst es fördern!" Das sind auch Ihre Eltern.
Wir geben Ihnen das Rüstzeug an die Hand, damit sie erfolgreich in den Gremien agieren können. Es ist doch das große Problem von Elternvertretern: Sie kommen völlig neu in eine Schule - und ihnen sitzen Vollprofis gegenüber. Der Rektor und die Lehrer, die seit 20 Jahren nichts anderes machen und die man gar nicht versteht, weil sie lauter Kunstbegriffe im Mund führen.
Ach was, Abkürzungen lernen Eltern blitzschnell. Aber sie wissen nicht, dass man heute anders Schule macht. Eltern haben ein Unterrichtsschema von vor 30 Jahren im Kopf. Unterricht soll am besten so laufen wie in der Feuerzangenbowle: Im Gymnasium, von vorn und mit einem Lehrer, der so witzig wie Heinz Rühmann ist. Eltern denken: Keine Experimente mit meinem Kind!
Nein, das ist nicht so. Eltern sind viel pluraler, als sie denken. Ich habe viele Schulen und noch mehr Elternvertreter kennengelernt. Da sitzen Menschen, die seit Jahren in den Gremien sind, aber gar nicht die Möglichkeiten nutzen, die sie in den Schulkonferenzen haben. Wir haben denen gesagt: "Ihr habt auch eine Informationspflicht!" Wir haben auch zu viele Eltern, die nur das Interesse ihres eigenen Kindes im Auge haben. Aber nicht das Gesamtinteresse der Schule.
Herr Schindler, die Länderergebnisse von Pisa 2006 zeigen: Es gelingt jenen Ländern, die ihre Hauptschulen in Real- oder Sekundarschulen aufgehen lassen, die Zahl der Risikoschüler zu senken.
Wir haben in Berlin Hauptschulen, die leisten sehr erfolgreiche Arbeit. Da gibt es noch Lehrer, die sagen: "Ich mach was aus meinem Schüler." Die nehmen sich der Kinder an.
Kann es sein, dass Sie deswegen so fürsorglich für Hauptschulen sind, weil deren Auflösung Ihren Kindern und Ihren Wählern die Hauptschüler bescheren würde?
Nein.
In den Hauptschulen sind Sie jedenfalls nicht gewählt worden. Denn da gehen die Eltern nicht zur Wahl.
Ich werde ohnehin nicht direkt gewählt, sondern im Landeselternausschuss.
Meines Erachtens sind Sie gar kein Gesamtelternsprecher. Sie agieren perfekt wie der Vorsitzende einer Bildungspartei, der sie mal waren. Sie vollziehen den Willen Ihrer Wähler, der bildungsbürgerlichen Eltern: "André, halt unseren Kindern die Hauptschüler vom Leib!" Also fordern sie, dass die Hauptschulen bestehen bleiben sollen.
Eine seltsame Theorie. Der Landeselternausschuss hat den Beschluss gefasst, dass auch Schüler mit einer Hauptschulempfehlung auf die Gymnasien gehen sollen - das widerspricht dem eindeutig.
Mit dem Elternwillen holen Sie tatsächlich ein paar Hauptschüler aufs Gymnasium …
… was heißt ein paar! Die Hälfte der Kinder mit Hauptschulempfehlung schafft das Probehalbjahr auf dem Gymnasium. Es ist doch ein Skandal, dass die Grundschulen deren Talent nicht erkannt haben!
Mag sein. Dennoch wollen sie die Hauptschulen und das Probehalbjahr am Gymnasium. Sie halten damit das Oben und Unten des Schulsystem aufrecht. Sie bekommen ihr Elternwahlrecht - und die bürgerlichen Eltern die Sicherheit, dass sogenannte Schmuddelkinder draußen bleiben.
Ich kann mich durchaus anfreunden mit dem Gedanken, dass Hauptschulen überflüssig werden. Nur würde ich sie ganz anders verhindern.
Wie denn?
Kein Grundschüler darf die Schule mehr mit einem schlechteren Notenschnitt als 2,5 verlassen. Das garantieren der Senator und seine Grundschulen. Und dafür werden verbindliche Förderprogramme installiert, die greifen, wenn die Kinder ins Trudeln kommen. Nicht bloß einen Zettel, sondern reales Fordern und Fördern. Das wäre meine Methode.
Wen vertreten Sie, Herr Schindler?
Alle Eltern. Egal, aus welcher sozialen Schicht sie kommen und egal, ob sie einen Migrationshintergrund haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen