Berliner Einzelhandel: Pamuk lebt weiter
Im Moabiter Kiezladen Pamuk Shop bekommen Kunden alles – von Tabak bis zum Bettlaken. Über die vielen Dinge wacht der Hund des Eigentümers.
Zwischen Dutzenden Souvenirs haftet eine marineblaue Postkarte an der magnetischen Wand. Der Kopf eines weißen Hundes ziert sie. Zwischen dem wuscheligen Haar und der buschigen Schnauze sitzen links, rechts zwei schwarze Knopfaugen. Unter dem Hundegesicht: I love Pamuk Shop Berlin.
In der Mitte der Karte klebt eine kleine LED-Lampe. Sie funktioniert nicht. Hasan Aydemir nimmt die defekte Postkarte, tritt hinter seinen Tresen und richtet sich auf seinem hölzernen Stuhl ein. Er ergreift sein Werkzeug und macht sich an der Karte zu schaffen. Binnen weniger Momente flackert die Lampe im Sekundentakt wieder neonblau auf. Unter Hasans Stuhl döst währenddessen sein zottiger weißer Hund Pamuk.
Immerfort werfen die Neonröhren des Pamuk Shops ihr Licht auf die Gotzkowskystraße in Moabit, als stecke der Kiez in einer blauen Stunde fest. Vorbeiwandelnde erhaschen einen Blick auf Hasans Sortiment, das sich wie ein Mosaik aus Spielzeugpistolen, Klammeraffen, Kopfkissen, Stichsägeblättern und Lederpantoffeln zusammensetzt. In Metallkörben auf dem Gehweg prangen bunte Bürsten neben Osterhasen, Klappstühlen und Christbaumkugeln.
Heute, an einem Samstag, stellt Hasan seine Metallkörbe um die Mittagszeit, kurz nach dem Öffnen, auf den Gehweg. Auf den Preisschildern steht „Täglich 07:00 bis 01:00“. Doch anders als die Schilder proklamieren, ist sein Geschäft an den Wochenenden länger geöffnet und in den Morgenstunden geschlossen.
Über der Eingangstür wachen auf einem Reklameschild die Knopfaugen Pamuks. Wer eintritt, sieht am anderen Ende des Geschäftes Hasan Aydemir auf seinem Stuhl sitzen. Über ihm bäumt sich eine Wand aus unzähligen Tabak- und Alkoholerzeugnissen auf. Pamuk ist hinter dem Tresen an einer blauen Leine angebunden. Der Vierbeiner sieht jünger aus, als seine Abbildungen andeuten. Auch scheint er eine andere Hunderasse zu verkörpern.
Wie Hasan kam Pamuk einst aus dem türkischen Malatya nach Berlin. Seit seiner Ankunft war der Hund ständiger Begleiter Hasans. Pamuk war dabei, als Hasans Musik-Café in der Turmstraße brannte, als er zwischenzeitlich in einer Lagerhalle schlafen musste. Er war dabei, als Hasan seinen Kiosk mit Berlin-Souvenirs eröffnete. Zum Dank für seine Treue widmete Hasan Pamuk diesen Shop. Ihm gefielen die Worte nicht, mit denen man seine Arbeit beschrieb: Ein schlichter Kiosk ist der Shop nicht, auch kein Späti, Supermarkt oder Haushaltswarenladen. „Pamuk Shop trifft es am besten“, resümiert Hasan.
Schrauben oder Shampoo
Jeden Artikel, nach dem ihn Kunden fragten, nimmt Hasan ins Sortiment auf. Tische, Stühle oder Regale, die auf Moabits Straßen nicht länger gebraucht werden, dienen als Resonanzkörper, die Spielzeug, Süßes, Schrauben oder Shampoo erklingen lassen. Auf Möbeljagd stößt Hasan gelegentlich auf alte Rollatoren oder Regenschirme. Er schraubt sie auseinander, um sie mit Lämpchen, Girlanden oder Soundkarten zu vereinen. So entstehen blinkende und klingende Spielsachen, die in den Deckenkonstruktionen des Pamuk Shop baumeln.
Als Pamuk noch dem Hund auf den Postkarten glich, konnte er – damals reifer und besser erzogen als heute – ohne Leine herumlaufen. Er kuschelte sich in die selbst gebauten Konstruktionen, zwischen Tischdecken, Plastik-Blumen und Schuhsohlen. Pamuk wurde hofiert und bekam sogar einen eignen Sitzplatz beim Dönerladen, den Hasan mit seiner Begleitung nach Feierabend aufsuchte.
Nicht alles verlief rosig für Pamuk. Schnell locken Katzen oder freche Kinder auf die Straße – die gefährliche Gotzkowskystraße, über die mächtige Autos brausen. Als solch ein Auto Pamuk erfasste, hinderte der herausstürmende Hasan den Fahrer am Weiterrollen. Pamuk klebte zwischen Reifen und Karosserie. Hasan brachte den zertrümmerten Liebling ins Krankenhaus. Nach einer Notoperation überlebte Pamuk wie durch ein Wunder.
Dieser längste Lebenszyklus des Maskottchens endete nach 16 glücklichen Jahren. Dann begann der Pamuksche Lebenszyklus wieder von Neuem. Heute ist Pamuk erst stubenrein geworden und noch zu wild und aufgeregt, um sich ohne Leine bewegen zu können. Bei vielen Kunden wittert er eine Gelegenheit zum Spielen und springt auf. Für vorbeirasende Autos wäre er leichte Beute.
Neben der Kasse hängt auf Hüfthöhe ein seidener Rock. Auf dem Stoff scheint sich eine braune Flüssigkeit ausgebreitet zu haben. Mit Filzstift auf Pappe geschrieben steht: „Dreckschwein wird sich freuen, auf was er getan hat.“ Das „auf“ quetschte der Verfasser nachträglich zwischen die Worte. Andere Schilder erklären: Diebstahl wird zur Anzeige gebracht. Taschen können kontrolliert werden. Hasan berichtet: Kindern, die klauen oder allzu frech werden, erteilt er Hausverbot.
Manche Kunden berauben, bedrohen oder beleidigen ihn. Um dies zu verdeutlichen, schlüpft Hasan in die Rolle seiner Peiniger. Er richtet sich auf und mimt, mit welchen Gesten diese Konfrontationen einhergehen oder welche Flüche fallen. Oft sind es Rechte, die ihn angreifen. Fast immer haben sie Migrationshintergrund, sagt er. Vor allem über die Beleidigungen schimpft er laut. Leiser wird er, wenn er von Raubüberfällen spricht. „Diebe haben Angst. Sie wissen nicht, wie ich mich wehre“, erklärt Hasan. „Nur aus Angst werden sie gefährlich.“
Diebe verraten sich
Hasan weiß, wer tüftelt, wer liest, nascht, kifft oder säuft. Er liest seine Kundschaft wie ein offenes Buch. Auch Diebe verraten sich durch ihren Einkauf. Verbrecher kaufen Handschuhe, um keine Spuren zu hinterlassen. Verbrecher kaufen Bettlaken. Hasan kennt ihre Verwendung aus seiner Heimat, der Aprikosenstadt Malatya. Bauern sammeln ihre sonnengereiften Früchte in großen Bettlaken. Hasan erzählt: Auch Verbrecher schaufeln die Bestückung ganzer Ladentheken in Laken. Mit ihrer Beute entfernen sie sich blitzschnell. Hasan verkauft Handschuhe und Bettlaken nur an Kunden, denen er vertraut.
Gewalt spielt für die meisten Geschäfte auf der Gotzkowskystraße keine große Rolle. Auch Harun Sönmez kennt die Gegend seit Jahrzehnten. Wenige Meter neben Hasan eröffnete er einen Hofladen. „Im Pamuk Shop gab es früher viele Überfälle. Manchmal brachen sie wöchentlich bei ihm ein“, berichtet Sönmez. Früher habe es bei manchen Kriminellen die Routine gegeben: Wer schnell ein wenig Geld braucht, beraubt Hasan.
Anwohner zeigten sich schockiert über die Brutalität, die Einbrecher Hasan gegenüber zeigten. Warum gerade er immer wieder Opfer wurde, kann auf der Gotzkowskystraße niemand genau beurteilen. Vielleicht ist es die Nacht, die Gewalt in das Geschäft bläst. Andere vermuten: Möglicherweise nehmen manche Hasan als provokativ wahr.
Heute, an einem Samstag, sind die Besucher gut gelaunt. Ihr Alter liegt zwischen fünf und achtzig Jahren. Die Kunden kaufen Zigaretten, Cinch-Kabel, Bürsten, Wodka, Klopapier und Lebkuchenherzen. Hasan erklärt einer Kundin, wo sie Schreibwaren findet. Drei große Flachbildschirme über seiner Kasse übertragen, was sich in den hinteren Winkeln des Shops abspielt. Auf diesen verfolgt der Chef, wie die Kundin hilflos umherirrt. Mürrisch erhebt er sich, um sie zu lotsen. Auch Pamuk steht auf und geht so weit, bis die Leine ihn am Vorrücken hindert.
Nachbar Harun Sönmez erinnert sich an die Zeit, als es schwer war, in Moabit einen Spätkauf zu finden. Damals sammelte sich nachts das ganze Viertel beim Pamuk Shop, um Tabak, Alkohol, Snacks oder Zahnbürsten zu kaufen. „Damals hätte ich meinen Hofladen nicht eröffnen brauchen“, schätzt er. Die Gegend sei ärmer und gewalttätiger gewesen. Heute siedeln sich mehr Menschen mit Geld an. Mit ihnen gedeihen Geschäfte, die sich mit eleganten Holzvertäfelungen oder begrünten Sitzgelegenheiten zieren. Sönmez kommentiert: Wer sich schön einrichtet, erntet Spott von alten Moabitern. Die Ästhetik assoziieren Kritiker mit Prenzlauer Berg. Sömnez jedoch findet: „Das Viertel entwickelt sich zum Guten“. Diese Haltung teilen mehrere Ladenbetreiber der Straße.
Auch Hasan Aydemir verfolgt die Entwicklung seiner Straße. Deswegen würden ihn aber nicht weniger Kunden schlecht behandeln. Immerhin sind die Raubüberfälle seltener geworden, sagt er. Wer Menschen in der Nachbarschaft auf den Pamuk Shop anspricht, stößt auf lächelnde Gesichter. Für sie ist er nicht aus der Straße wegzudenken. „Wenn ich gehen müsste“, überlegt auch Hasan, „würde ich das vermissen, was mich jeden Tag nervt – Lärm, freche Kinder, Stress. Jeder vermisst am Ende das, worüber er sich davor beschwerte.“
Etwas Spezielles suchen
Ein älterer Herr mit Schirmmütze tritt ein und steuert zielsicher zum Elektronik-Regal. Nach kurzem Suchen legt er eine USB-integrierte Steckdosenleiste auf den Tresen. Ob er oft komme? „Nur, wenn ich etwas Spezielles suche“, entgegnet dieser. „Mir ist schleierhaft, wie Hasan sein Sortiment überblicken kann.“ Eine leichte Erklärung für Hasan. Er sei der Einzige, der Ware im Großmarkt jagt. Er allein kümmere sich um die Bepreisung. Er allein räumt Zahnbürste, Fliegenklatsche und Toaster an den Platz seiner Bestimmung. Er allein entfernt später den Staub. So vergesse er nie, wo etwas steht.
Jahre habe es gebraucht, seinen Kundenstamm aufzubauen und sich vor Raubüberfällen zu schützen. Warnende Schilder und Videokameras schrecken nun Diebe ab. Hauseigene Tüfteleien baumeln über Hasans Kasse. Einbrecher könnten sie für Alarmanlagen oder Tränengas halten. Auch Hund Pamuk ist Teil dieser Strategie, erklärt Hasan. „Viele Angreifer fürchten sich vor Pamuk, wenn er bellt“. Trotz seiner Verpflichtungen findet Hasan immer wieder Zeit zu tüfteln. Sein Hund nutzt die Gelegenheit, unter Herrchen zu dösen.
Laut Anwohnern waren manche der vergangenen Pamuk-Reinkarnationen lauter und gefährlicher als die heutige. Aber jeder Pamuk stand für Hasans Shop, der tausend Kostbarkeiten auf die Moabiter Straße wirft. Als zwei Kinder Wassereis kaufen, richtet sich der Vierbeiner auf. Fast erreicht er die Hüfte der Besucher. Sein Kläffen ähnelt dem Geräusch, mit dem Kleinkinder niesen. Freudig spielt er mit den Händen, die ihn liebkosen. Die Kinder schätzen den zottigen Hund auf ein Jahr. Hasan zeigt Nachsicht, als sie einige Kupfermünzen zu wenig auf den Tresen legen.
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