Berliner Dokumentarfilm: Häusliche Gewalt kann jede treffen

Der Dokumentarfilm „Zuflucht nehmen“ ist etwas besonderes: Regisseurin Selina Höfner ist vom Fach und stellt Frauen nicht als Opfer dar.

Berliner Plattenbau mit erleuchteten Fenstern

Hinter jedem Fenster kann häusliche Gewalt stattfinden Foto: dpa

Berlin taz | Es gibt wenige Themen, die uns klar erscheinen und die wir vielleicht gerade deswegen von uns wegzuschieben bereit sind. Es sind Themen wie der Klimawandel, steigende Lebenskosten, häusliche Gewalt. Wenn wir Glück haben, schafft es jemand, die Themen so an uns heranzutragen, dass wir sie emotional begreifen. So wie der Dokumentarfilm „Zuflucht nehmen, der sich mit häuslicher Gewalt in Berlin beschäftigt.

Der Premierenabend am Montag im Babylon Mitte beginnt mit einer Begrüßung der Produzentin Selina Höfner und einer Überraschung: Vor diesem Projekt habe sie noch nie im Film gearbeitet, erzählt sie. Ihr sei durch ihre Arbeit als Sozialarbeiterin „im Antigewaltbereich“ bewusst, wie wenig über das Thema bekannt sei. Es sei ihr wichtig gewesen, betroffene Frauen und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen zu Wort kommen zu lassen. Diese beiden Perspektiven sind es, durch die der Film eine Geschichte vom Kampf um Freiheit und Sicherheit erzählt.

Während Betroffene sonst häufig auf Gewaltschilderungen und somit eine Opferrolle reduziert werden, verzichtet dieser Film größtenteils darauf, konkret zu werden, und konzentriert sich auf einen Ermächtigungsprozess. So begleiten Zuschauende eine anonyme Betroffene von der Hoffnung „Maybe tomorrow is a better day“ bis zum Entschluss: „Ich muss jetzt denken wie eine alleinerziehende Mutter.“

Und während So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen sonst meist als Ex­per­t*in­nen zu Wort kommen, lässt der Film Raum für ganze Menschen. Hier sprechen nicht nur Sozialarbeiter*innen, sondern auch Frauen, alleinerziehende Mütter und politische Personen. Menschen, die teils seit Jahrzehnten in diesem Bereich arbeiten und noch immer dazulernen, wie sie erzählen.

Ein filmischer Aha-Moment

Zwischen den Prot­ago­nis­t*in­nen stehen teils lange Bilder von geometrischen Animationen und Häuserfassaden von Marzahn bis Schöneberg. Was anfangs gewöhnungsbedürftig erscheint, schafft eine persönliche Nähe und zugleich Raum zum Begreifen. So führt der Film Zuschauende zum „Aha-Moment, dass alle Frauen betroffen sein können“, wie es eine der Sozialarbeiterinnen beschreibt.

Auch die gemeinsame Problemwelt zeigt, wie nah das Thema ist: Steigende Mieten und zu wenig Wohnraum werden im Film zu zentralen Problemen erklärt. Die Frauenhäuser seien dauerhaft voll – auch, weil es selbst mit Unterstützung bis zu zwei Jahre dauern kann, eine eigene Wohnung zu finden.

In diesem Punkt habe sich die Arbeit sehr verändert, erzählt die Sozialarbeiterin Sabine, die nach der Wende gemeinsam mit Freun­d*in­nen einen Frauenraum eröffnet hat. Damals habe es viele freie Wohnungen gegeben, teils seien die ersten Monatsmieten sogar erlassen worden. Auch die Öffentlichkeit sei eine andere gewesen. Fotos und Videos zeigen Demonstrationen in den 1990er Jahren, unterlegt mit feministischer Punkmusik von heute.

Zurück im Jahr 2022 zeigt der Film Aufnahmen eines Streiks von ein paar Dutzend Frauenhausmitarbeitenden vor dem Brandenburger Tor. Eine Protagonistin erzählt von einer Passantin, die zu ihr gesagt habe: „Das ist keine richtige Frauenbewegung, dafür seid ihr zu wenige.“ Nach diesem Film könnten sie mehr werden.

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