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Weil man in Neukölln hart im Nehmen sein muss? Boxhandschuhe als Werbung Foto: André Wunstorf

Berliner Bezirk als KonfliktzoneSchicksal Neukölln

Wie kaum ein anderer eignet sich der Bezirk als Projektionsfläche für Kulturkämpfe. Nun hat ein CDU-Politiker ein kontroverses Buch vorgelegt.

H err Liecke, ist Neukölln ein Schicksal?“ Falko Liecke, 49, groß, schlank, kurzes graues Haar, guckt nachdenklich. „‚330.000 Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und dennoch ein Schicksal teilen‘: Das sagen Sie in einem Video zu Ihrem Buch.“ Liecke kommt in Fahrt: „Viele Leute hier kommen nicht aus ihren Kiezen raus – nehmen Sie die High-Deck-Siedlung: Da leben Menschen, die verbringen ihr Leben dort, haben nie das Meer gesehen, vielleicht mal den Zoo. Und die können sich selber nicht daraus befreien.“

Ihnen will er helfen. Der CDU-Politiker war bis zur letzten Berlin-Wahl im September 2021 Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, jetzt ist er Sozialstadtrat des Bezirks. Sein Buch heißt „Brennpunkt Deutschland. Armut, Gewalt, Verwahrlosung – Neukölln ist erst der Anfang“.

Neukölln, das ist an diesem kalten Februartag ein sogenanntes Mischgebiet am Schifffahrtskanal. Zwischen Mietshäusern und Kleingärten ist hier, nah zum Nachbarbezirk Treptow, Gewerbe angesiedelt, eine Autowerkstatt, ein Verpackungsbetrieb, ein Hochzeitssaal. Und seit Kurzem: die Berliner Berg Brauerei. Hinter einem nagelneuen Zaun steht deren frisch erbaute dunkelgrüne Halle, vor dem Zaun steht Liecke und wirkt angespannt.

Der einzige Christdemokrat unter den sechs Mitgliedern des Neuköllner Bezirksamts – fünf Stadt­rä­t*in­nen und ein Bürgermeister –, hat eine ganze Menge Probleme. Eins ist, dass er jetzt Sozialstadtrat ist: In den Bereichen Gesundheit und Jugend hatte sich Liecke in zwölf Jahren Amtszeit über Partei- und Bezirksgrenzen hinweg Anerkennung erworben, für sein Pandemie-Management und weil er sich für den Neubau eines Jugendzentrums und ein neues Treffs für queere Jugendliche eingesetzt hat.

Neukölln von A bis M

Ali war im Jahr 2020 der beliebteste Jungenname in Neukölln. Bei Mädchen: Mila.

Bevölkerung: 327.100 Menschen leben in Neukölln, 158.273 haben einen ausländischen Migrationshintergrund (48,4 Prozent). Davon sind 86.873 Ausländer*innen, also nichtdeutsche Staatsangehörige. Ein Drittel davon wiederum, 28.865, sind EU-Bürger*innen (siehe W).

Çüş: In Neukölln üblicher Ausdruck für Erstaunen, gesprochen „Tschüüüsch“, aus dem Türkischen.

Einbürgerung: Menschen aus 127 Ländern wurden in den vergangenen Jahren im Neuköllner Rathaus eingebürgert.

Hufeisensiedlung: Arbeitersiedlung im Neuköllner Stadtteil Britz; zwischen 1925 und 1933 nach Plänen von Bruno Taut erbaut, seit 2008 Unesco-Weltkulturerbe.

Hasenheide: Franziska Giffey soll den großen historischen Park mal „das beste Gras von Berlin“ genannt haben.

Landwirtschaft: Kühe, Schweine und Pferde: Am Hofladen des Milchhofs Mendler im Süden von Neukölln kann man am Wochenende auch frühstücken. Aber nur bis zehn Uhr.

Musike: „Auf den Sonntag freu ich mir. Ja dann geht es raus zu ihr. Feste mit vergnügtem Sinn, Pferdebus nach Rixdorf hin. Dort erwartet Rieke mir, ohne Rieke kein Plaisir“. Berliner Liedgut von 1895.

Dass er nun Sozialstadtrat sein muss, liegt am Abwärtstrend der CDU bei Wahlen im Bezirk. Auch der gehört zu seinen Problemen – Liecke ist Vorsitzender der CDU Neukölln. Vor allem aber hat er in seinem neuen Ressort den ganz großen Berg von Problemen des Bezirks auf dem Tisch – aber kaum Geld, ihn anzugehen.

Bei dem Termin in der Brauerei spielt auch das eine Rolle. Nach einem Gang durch die neue Brauhalle sitzt Liecke im kleinen Schankraum des Unternehmens. Die Braue­r*in­nen wollen ein soziales Projekt im Bezirk anstoßen: Aufsätze für öffentliche Abfalleimer, die Pfand­samm­le­r*in­nen ersparen, Flaschen aus dem Müll wühlen zu müssen. „Das ist weniger demütigend“, sagt Michéle Hengst, Mitte 30 und Geschäftsführerin der Berliner Berg GmbH.

Angesagte Destination

Falko Liecke trägt ein blaues Sakko, trinkt Limo und ist interessiert. Hengsts Sakko ist schwarz, unter den Ärmeln lugen Tattoos bis zu den Handgelenken hervor. 16 Beschäftigte hat ihr Betrieb, rund vier Millionen Euro haben die Braue­r*in­nen in den Standort investiert.

Neukölln von P bis Z

Protestantische Flüchtlinge aus Böhmen fanden ab 1737 im späteren Neukölln Asyl. Sie gründeten dort Böhmisch-Rixdorf, wo sich heute noch ihre Kirchengemeinde befindet.

Rixdorf hieß der nördliche Teil Neuköllns früher. Doch es gab ein Imageproblem: An dem „Vergnügungsort der Arbeiterklasse“ stieg die Kriminalität. Als es der *Musike zu viel wurde, nannte man den Stadtteil mit Genehmigung von Kaiser Wilhelm II in Neukölln um, am 27. Januar 1912, Kaisers Geburtstag. Das Imageproblem blieb.

Tempelhofer Feld: Der alte Flughafen ist mit 303 Hektar fast so groß wie der Central Park und eine wichtige Erholungsfläche für den dicht besiedelten Neuköllner Norden.

Wahlergebnisse in Neukölln: 1999: SPD 26,4 Prozent, CDU 51,4, Grüne 9,2, Linke 4,6. 2021: SPD 28,7 Prozent, CDU 16,9, Grüne 17,6, Linke 15.

EU-Bürger*innen sind auf Bezirksebene wahlberechtigt, andere Aus­län­de­r*in­nen haben kein Wahlrecht.

Zander, Frank: Der Schlagerstar und gebürtige Neuköllner lädt jährlich zur Weihnachtszeit Obdachlose zum Gänseessen in ein Neuköllner Nobelhotel ein.

Bier hat Tradition im Bezirk. Die 2005 stillgelegte Kindl-Brauerei im Neuköllner Norden ist heute Kunst- und Kulturstandort. Berliner Berg bedient das Publikum, das solche Veränderungen in den Bezirk locken soll, als neue An­woh­ne­r*in­nen wie als Tourist*innen. In immer mehr Straßen reihen sich Cafés, Restaurants, Bars und Hostels aneinander, neu zugezogene Hipsterpärchen führen die gleichen handtaschengroßen Hunde Gassi wie alteingesessene Neuköllnerinnen. In der Sonnenallee, wegen ihrer vielen arabischen Läden „arabische Straße“ genannt, eröffnen Bio-Supermärkte neben Geschäften für islamische Bekleidung, alte Einwanderer aus der Türkei und dem Libanon rauchen neben jungen aus Spanien und den USA Shisha.

Jung, hip und dicht besiedelt: der Neuköllner Norden Foto: André Wunstorf

Nord-Neukölln steht als hippe Destination in internationalen Reiseführern, alte Eckkneipen bieten ihr Logo als Souvenir auf T-Shirts an. In den Spätis, angesagte Treffs der Partyszene, kostet das Pils von Berliner Berg um die 1,90 Euro, dreimal mehr als das billigste.

In Lieckes Buch kommen Grün­de­r*in­nen wie Hengst und ihre Zielgruppe nicht vor, ebenso wenig wie andere Veränderungen Nord-Neuköllns. Um fast 150 Prozent stiegen die Wohnungsmieten bei Neuverträgen hier im letzten Jahrzehnt. Nicht nur für arme Leute, von denen es hier viele gibt – „fast jedes zweite Kind in Neukölln wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf“, schreibt Liecke –, ist Gentrifizierung ein Problem.

Der Begriff taucht in seinem Buch nur ein Mal auf. Sieht er den Zusammenhang nicht? „Doch“, sagt Liecke, aber „das ist nicht mein fachlicher Schwerpunkt“ – also mal nicht sein Problem. Gentrifizierung bringt Geld in den Bezirk, etwa über Gewerbesteuern. Und um die Neu-Neuköllner*innen, die sich die hohen Mieten leisten können, muss sich sein Sozialamt nicht kümmern. Um die Obdachlosen schon. Die „Beendigung unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030“ hat sich Berlins rot-grün-roter Senat zum Ziel gesetzt und mit den Bezirken dazu Vereinbarungen geschlossen.

1.018.845.600 Euro beträgt der Haushalt des Bezirks 2022. Der Amtsbereich Soziales bekommt davon viel: 461.364.000 Euro, 45,2 Prozent. Doch davon, rechnet die Pressestelle des Bezirks vor, sind „circa 460.842.800 Euro“ „festgeschriebene gesetzliche Leistungen und Personalmittel“, ein Anteil von 99,88 Prozent. Gut eine halbe Million bleibt Liecke für andere Projekte, für Se­nio­r*in­nen oder Obdachlose etwa. Spielraum für eigene politische Zielsetzungen bleibt da kaum.

„Ein Sozialstadtrat hat nicht viele Möglichkeiten“, sagt Bernd Szczepanski, Mitglied im Neuköllner Bezirksparlament und von 2011 bis 2016 selbst Sozialstadtrat. Der Grüne sieht „bei aller grundsätzlichen Kritik“ auch einen „positiven Ansatz“ bei Liecke: „Der Podcast des Gesundheitsamts mit Informationen zur Coronapandemie: Das war eine gute Sache, das muss ich anerkennen.“

Neukölln habe die Pandemie im Vergleich zu anderen Bezirken ganz gut gemanagt, sagt auch die Grüne Anja Kofbinger. Sie saß bis September für den Neuköllner Norden – wo längst Grün gewählt wird – im Berliner Abgeordnetenhaus und hatte dort als Mitglied im Gesundheitsausschuss Einblick ins Coronamanagement der Bezirke. Sie ergänzt: „Liecke war eben so klug, auf seine Verwaltung zu hören!“

Falko Liecke (CDU), seit 2009 Stadtrat in Neukölln, im Rathaus des Berliner Bezirks Foto: André Wunstorf

Das zeichne einen guten Kommunalpolitiker ja gerade aus, heißt es dazu aus der Neuköllner Gesundheitsverwaltung. Auch politische Gegner im Bezirksamt bescheinigen Liecke, gebürtiger Berliner und Diplom-Verwaltungswirt, guten Umgang mit seinen Mitarbeiter*innen.

Am Tag vor dem Besuch in der Brauerei hat Liecke aber „Mist gebaut“, wie er später in seinem Büro in Neuköllns Rathaus selbst sagt. Per Twitter hatte er der neuen Spitze der Bundesgrünen, Ricarda Lang und Omid Nouripor, ein „fröhliches ‚ALLAHU AKBAR‘“ gewünscht. „Das war vielleicht nicht so eine gute Idee“, sagt Liecke jetzt, und dass er den Tweet bald gelöscht und sich bei Nouripour entschuldigt habe.

Der Grüne hatte 2018 bei einer Bundestagsdebatte über einen AfD-Antrag zur „Unvereinbarkeit von Islam, Scharia und Rechtsstaat“ gesagt: „Unser Job hier ist, dafür zu sorgen, dass die Teile (der Scharia, die Red.), die mit dem Grundgesetz vereinbar sind, auch angewendet werden können, aber diejenigen nicht, die dies nicht sind.“ Das wurde in rechten Kreisen schnell zu: Nouripour wolle in Deutschland die Scharia, also islamisches Recht, einführen.

Liecke als Islamfeind: Das sehen einige in Neukölln so. 20 Prozent hier sind Menschen, die oder deren Vorfahren aus mehrheitlich islamischen Ländern stammen, was nichts über ihre Verbundenheit zum Islam aussagt. Liecke kämpft gegen eine Moschee im Bezirk, die wegen vermuteter Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft im Berliner Verfassungsschutzbericht genannt wurde, dagegen aber erfolgreich geklagt hat.

Und er kämpft für das Berliner Neutralitätsgesetz, das Beschäftigten im Staatsdienst das sichtbare Tragen religiöser Symbole verbietet – etwa das Kopftuch, weshalb vor allem muslimische Lehrerinnen dagegen klagen. „Nicht unter jedem Kopftuch steckt eine Islamistin“, schreibt Liecke: „Aber wer als Kopftuchaktivistin auftritt, vertritt einen fundamentalen, antifeministischen und politischen Islam, der im Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.“

Liecke selbst sieht sich damit als Verteidiger eines „auf unserer Verfassung fußenden“ Rechtsstaats, zu dessen Grundlagen für ihn „unverhandelbar“ Neutralität gehört. Ein Berufsverbot für muslimische Lehrerinnen sei das Kopftuchverbot nicht: „Sie können es ja ablegen und ihren Beruf dann ausüben“, sagt der Christdemokrat.

Er ist damit auf einer Linie mit der Berliner SPD, die das Gesetz 2005 einführte und seither verteidigt – damals in einer Koalition mit der Linken, die es heute kritisch sieht. Auch in anderen Punkten geht der CDUler konform mit Sozialdemokrat*innen: etwa bei der Bekämpfung sogenannter Clankriminalität, bei der vor allem Familien arabischer Herkunft im Fokus stehen. Und die in Neukölln bis zur letzten Wahl mit Razzien in Shisha-Bars durchgeführt wurde, mit großem Polizeiaufgebot und teils begleitet von Bezirksbürgermeister Martin Hikel, SPD.

Boutique im Süd-­Neuköllner Stadtteil Rudow Foto: André Wunstorf

Tatsächlich hat in Neukölln eine Familie einen Wohnsitz, der mehrere Männer angehören, die wegen des Raubs einer Goldmünze aus dem Bode-Museum verurteilt und beim Juwelendiebstahl im Dresdner Grünen Gewölbe tatverdächtig sind. Wenn Liecke solche schweren Straftaten mit teuren Uhren und Autos und sonstigem „archaischem Geltungsdrang“ arabischer Männer in einen Topf wirft, ist er ebenfalls nicht allein: Auch Polizeipräsidentin Barbara Slowik verwies bei der Vorstellung des „Lagebilds Organisierte Kriminalität Berlin 2018“, in dem „Clankriminalität“ erstmals auftauchte, auf Rolex-Uhren und Zweite-Reihe-Parken: Das sei zwar nicht kriminell, aber „da fängt es an“. Liecke erregte 2018 viel Aufsehen mit dem Vorschlag, kriminellen „Clans“ die Kinder wegzunehmen.

Im Käfig aus Bildungsferne

Der Stadtrat erzählt von Neuköllner Jungen, „die mir sagen: Das wollen wir auch!“ Dass es viele Menschen arabischer und türkischer Herkunft gibt, die ihr Geld ehrlich verdienen, weiß er. Aber auch die kommen in seinem Buch kaum vor: Lieckes Blick gilt jenen, die das aufgrund ihrer Herkunft nicht schaffen. Über muslimische Frauen in einem Elterncafé schreibt er: „Ihr Käfig ist geschaffen aus Bildungsferne, pseudoreligiösen archaischen Riten und Gebräuchen sowie anerzogener und teils brutal durchgesetzter Unterdrückung. Wo sie herkommen, ist das normal.“ Briefe aus der Schule müssten ihnen „von der zweitjüngsten Tochter übersetzt“ werden, „die älteren Kinder haben Ärger im Jugendklub, und der Mann ist – wenn überhaupt – nur dann zu Hause, wenn gegen Monatsmitte das Geld für den Spielautomaten fehlt“.

Das gibt es in Neukölln. Der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hat es vor zehn Jahren in seinem Buch „Neukölln ist überall“ beschrieben. „Parallelgesellschaft“ nannte das der Sozialdemokrat, auf den Liecke in seinem Buch fast ehrfürchtig Bezug nimmt. Buschkowskys Begriff benutzt er nicht. Und doch gleicht das Neukölln, dass der CDU-Mann beschreibt, dem des SPDlers – als habe sich seither nichts verändert.

„Es ist schlimm, wenn wir alle immer so in einen Topf geworfen werden“, sagt ein Bewohner, der im Café in der High-Deck-Siedlung nicht weit südlich der Berliner Berg Brauerei Tee trinkt. Er wohne seit der Kindheit hier, nun wüchsen seine Kinder hier auf, sagt der Enddreißiger palästinensischer Herkunft. Dass es Probleme gibt, wolle er nicht leugnen: Schlägereien zwischen Jugendlichen, Drogen. „Aber es gibt viele Bewohner, die sich hier engagieren.“

„Schule des Verbrechens“ heißt Lieckes Kapitel über die High-Deck-Siedlung, in der „selbst Polizistinnen in Zivil nur dann ungestört ihrer Arbeit nachgehen können, wenn sie sich ein Kopftuch überziehen“. Nader Khalil seufzt, als er das hört, und schweigt dann lange. Der Leiter des Deutsch-Arabischen Zentrums für Bildung und Integration, kurz DAZ, das weiter nördlich in Neukölln angesiedelt ist, sitzt in seinem Büro in der Siedlung, die in den 1980er Jahren fertiggestellt wurde. Für manche ist sie ein architektonisches Juwel, für andere ein Neuköllner Schandfleck. Auf Bodenhöhe befinden sich Parkplätze und Müllräume, eine Etage höher, auf den „High Decks“, verbinden Fußwege die zwei- bis fünfgeschossigen Wohnhäuser. Grünflächen liegen zwischen den Blöcken, einige Wohnungen haben Gärten. Oben ist es freundlich und hell, unten sammelt sich Müll in dunklen Ecken.

„Wir haben das DAZ hierher geholt, weil wir Ansprache und Beratung in arabischer Sprache brauchen“, sagt Ines Müller. Geschätzt 2.000 der etwa 5.000 Be­woh­ne­r*in­nen seien arabischer Herkunft, Müller sagt „Menschen mit arabischer Migrationskompetenz“. Seit 20 Jahren ist sie Quartiersmanagerin in der Siedlung: „Wir sehen, dass immer mehr junge Leute hier eine Ausbildung machen oder zur Uni gehen.“ Ihre Idee: Arabisch-Unterricht als Zweit- oder Drittsprache an umliegenden Schulen. Viele junge Leute im Bezirk sprächen perfekt Arabisch, „aber lesen und schreiben können sie es nicht“, sagt Müller: „Dabei ist das doch eine Kompetenz, die sie gebrauchen können!“

Nein, neu Zugezogene seien es nicht, die Beratung in arabischer Sprache bräuchten, sagt Nader Khalil: „Das sind Leute, die lange hier sind, viele aus dem Libanon.“ Anders als heute, wo Asylsuchende kostenlos Deutsch- und Integrationskurse und schnell Arbeitserlaubnisse bekommen, wurden Flüchtende vor den libanesischen Bürgerkriegen in den 1970er und 80er Jahren ohne solche Integrationshilfen empfangen. „Viele leben immer noch mit Duldung“, sagt Khalil – ein Aufenthaltsstatus, der alle sechs Monate verlängert werden muss.

Falko Liecke verweist in seinem Buch auf sogenannte Altfallregelungen des Bundes, die Betroffenen ermöglichten, aus solchen Kettenduldungen herauszukommen und so „Integrationsperspektiven eröffnet“ hätten. Was Liecke nicht erwähnt, erklärt Khalil: Diese Chance war an Bedingungen geknüpft, etwa die, sein Geld überwiegend selbst zu verdienen – nicht leicht ohne Deutschkenntnisse und, bei Menschen aus libanesischen Flüchtlingslagern, oft ohne Zugang zu Schulbildung.

Dass er nun wieder seufzt, hat aber einen anderen Grund. Auch Khalil ist in der CDU und findet gerade keine Antwort auf die Frage, warum. 2006 konnte er es im taz-Interview noch erklären: „Ich bin ein Werte­mensch, ein Familienmensch“, sagt er damals, und „die christlichen Grundwerte sind ja dieselben wie die islamischen“. Ihn störe etwa der offene Drogenhandel im Bezirk: „Es muss eine gewisse Härte des Gesetzes da sein.“ 2009 war er CDU-Kandidat bei der Bundestagswahl. Dass Perspektiven wie die ­Lieckes arabischstämmige Wäh­le­r*in­nen verprellen, ist eine Vermutung, die er teilt. Aber, sagt Khalil: „Das wird in der CDU nicht gesehen.“

Rechte Anschläge im Süden

Tief im Süden Neuköllns sitzt Heinz Ostermann in seinem Buchladen Leporello, Beate Dirschauer ist auch da, die örtliche Pfarrerin. Hier in Rudow säumen Lindenbäume alte Pflasterstraßen mit Einfamilienhäusern, der Norden des Bezirks heißt hier „Downtown Neukölln“. Ostermann engagiert sich gegen rechts, hier in Rudow wurde zweimal sein Auto angezündet, die Scheiben seines Geschäfts wurden eingeworfen. Hier haben Dirschauer und er 2018 die Initiative „Rudow empört sich“ ins Leben gerufen: als Reaktion auf solche rechten Anschläge im Stadtteil.

Und hier im Süden hat die SPD der CDU im September noch den letzten Wahlkreis in Neukölln abgenommen. Franziska Giffey, sagt Ostermann, sei ja auch „vielleicht kein schlechter CDU-Ersatz“.

Ziel rechter Anschläge: Buchhändler Heinz Ostermann Foto: André Wunstorf

Die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin hat ihre Karriere in Neukölln begonnen. Als Bildungsstadträtin baute sie die Rütli-Hauptschule, nach einem Hilferuf der Lehrkräfte 2006 Symbol gescheiterter Bildungspolitik, zur Gemeinschaftsschule mit Kita, Grundschule und gymnasialer Oberstufe um. Der „Campus Rütli“ hat seither mehr Anmeldungen als Plätze, der Anteil von Schü­le­r*in­nen nichtdeutscher Herkunftssprache sank von 83 auf 68 Prozent – was auch mit der Gentrifizierung im Nordneuköllner Einzugsbereich der Schule zu tun haben dürfte.

Bei der Integration von Roma-Familien, die im vergangenen Jahrzehnt verstärkt nach Neukölln einwanderten, enthielt sich die spätere Nachfolgerin von Bürgermeister Buschkowsky wertender Äußerungen: Diese Neu-Neuköllner hätten als EU-Bürger Rechte, die umzusetzen seien, so Giffeys Tenor. Rudow ist ihr Wahlkreis. Die Initiative „Rudow empört sich“ erfahre durch die SPD Unterstützung, sagt Buchhändler Ostermann. Bezirkspolitiker, auch Giffey, ließen sich bei der Menschenkette gegen rechts am Internationalen Tag gegen Rassismus im März 2021 sehen – wie auch Linke und Grüne.

Aber auch das Leben des Stadtteils ändere sich und werde vielfältiger, sagt Pfarrerin Dirschauer. Zusehends zögen Familien mit ganz unterschiedlichen Migrationsgeschichten hierher. Am Rudower Gymnasium liegt der Anteil von Schü­le­r*in­nen nichtdeutscher Herkunftssprache bei fast 50 Prozent.

Auch Neukölln: Tiere auf dem Milchhof Mendler im Süden des Bezirks Foto: André Wunstorf

All diese Veränderungen im Bezirk bilden sich auch politisch ab: Ins Landesparlament wählte Neukölln 2021 drei Abgeordnete mit Migrationshintergrund: ein Linker, zwei von der SPD (Interview 50, 51). Das Bundestagsmandat errang der Sozialdemokrat Hakan Demir. Die AfD bekam 2016 im Bezirk 12,7 Prozent der Stimmen, 2021 noch 7,1. Der bisher einzige AfD-Stadtrat wechselte noch im Amt zur CDU, später zu den Freien Wählern. Im Bezirksparlament sitzen unter 55 Mitgliedern acht mit Einwanderungsgeschichte, kei­ne*r davon Christdemokrat*in.

„Herr Liecke, hat die CDU etwas verschlafen, was die SPD verstanden hat?“ Falko Liecke sieht das andersherum: „Franziska Giffey hat von uns abgekupfert und die Leute damit eingelullt.“ Warum hat er sein Buch nicht vor der Wahl veröffentlicht? „Ich wollte mit dem Buch keine Wahlen gewinnen“, sagt Liecke und guckt wieder nachdenklich. „Ich will den Bezirk nach vorne bringen. Neukölln trägt man im Herzen.“ 2011 war er in Berlins Landesparlament gewählt worden – 38,3 Prozent bekam Liecke damals in seinem Wahlkreis im Rudower Nachbarstadtteil Buckow. Er blieb lieber Stadtrat in Neukölln.

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