Berliner Ausstellung zu Aldo Rossi: Spielerisches und Schönes für alle

Der Architekt und Architektur­theoretiker Aldo Rossi hat ein mehrdeutiges Werk hinterlassen. Welche Idee von der Stadt ergibt sich daraus heute?

Eine bunte Skizze Aldo Rossis zeigt die Fassaden des Quartiers Schützenstraße

Aldo Rossi, Studie für das Quartier Schützenstraße in Berlin, 1993 (Ausschnitt) Foto: Privatsammlung

Was war das für ein seltsames 25 Meter hohes Holzgebilde, das da 1980 auf einem Schiff von der Lagune Venedigs ablegte und durch die Adria fuhr bis nach Dubrovnik? Die oktogonale Kuppel wie die eines georgischen Kirchenbaus, aber die Kuppelspitze trägt eine überdimensionierte blaue Kugel mit Windfähnchen – doch eher ein monumentaler Spielzeugleuchtturm? Ohnehin, der gelb-blaue Holzverschlag: ein Kiosk, eine Wanderbühne? Und so wie die Kuppel aus dem Sockel hervorragt, meint man darin auch Andrea Palladios Kirchenbau Il Redentore auf der Inselgruppe Guidecca in Venedig zu sehen.

Der Architekt Aldo Rossi hat dieses mobile Theaterboot für die venezianische Architekturbiennale entworfen. Sein „Teatro del Mondo“ ist ein Fragment der Stadtgeschichte und gleichsam ein universelles Theater, es schwankt zwischen physischem Objekt und Bild. Auf einer zittrigen Zeichnung mit quellig-bunten Farbflächen, die jetzt in einer Berliner Ausstellung zu sehen ist, skizziert Rossi, wie dieses Boot gerade an der Giudecca vorbeifährt. Die feinen Linien des vergänglichen Holzbaus sind einheitlich mit denen der historischen Kirchenbauten, die Holzkuppel fügt sich in den Reigen der Steinkuppeln ein.

Es ist die Illusion einer Wirklichkeit, wie heute die digitalen Renderings jeden Architekturentwurf vermarkten, wirkt aber in der scheinbaren Beiläufigkeit der Skizze realistischer. Und da das „Teatro del Mondo“ wirklich durch die Lagunenstadt fuhr und es noch immer auf den Bildern Aldo Rossis zu sehen ist, hat es sich etwa auch in ein „kollektives Gedächtnis“ der Stadt eingeprägt? Ist es, wenn auch schon längst wieder in Einzelteile zerlegt und ausgelagert, Teil Venedigs geworden?

Aldo Rossi, der mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnete Mailänder Architekt und Architekturtheoretiker, der als Zeichner derart emsig war, dass sich selbst Experten über die Größe seines künstlerischen Nachlasses unsicher sind, operierte viel mit dem Konzept eines „kollektiven Gedächtnisses“. Er griff damit auf den französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs zurück (der 1945 in Buchenwald von den Nazis ermordet wurde). Mit ihm näherte sich Rossi in den 1960er Jahren einer Theorie der Architektur, vor allem bekannt durch sein Buch „L’architettura della città“.

Aldo Rossi: „Insulae“. Tchoban Foundation, Berlin. Bis 14. Mai. Katalog: 30 Euro

Architektur sollte demnach Teil eines Stadtgefüges sein, mit den gebauten und den kollektiv erfahrenen Schichten der Geschichte in einem ständigen Wechselverhältnis stehen. Damit ließ er, der Kommunist Rossi, Jahrgang 1931, das Tabula-rasa-Denken der klassischen Avantgarde hinter sich, wandte sich gegen die funktionale Stadt der Moderne mit ihren großmaßstäblichen Planungen, ihren ins Grüne ausgelagerten Wohnsiedlungen und zumeist per Automobil zu erreichenden Arbeitszentren. Man bezeichnet ihn daher auch als postmodernen Architekten.

Farbige, kleinteilige Architekturzeichnungen

Doch Aldo Rossis Stadttheorie bleibt fragmentarisch und sein Geschichtsbegriff diffus, wie die Architektur­theo­re­ti­kerin Angelika Schnell aufgearbeitet hat. Was meint er, wenn er 1977 schreibt: „Ich verstehe Geschichte als das bereitstehende Material der Architektur“? Seine unklare philosophische Haltung macht Aldo Rossi in viele Richtungen deutbar.

Das äußert sich auch in einer Berliner Ausstellung, die Rossis tolle, farbige, kleinteilige, in ihrer düsteren Skizzenhaftigkeit an Piranesi erinnernde Architekturzeichnungen zeigt. Sie sind im Museum der Tchoban Foundation zu sehen, einer Stiftung des Berliner Architekten Sergei Tchoban. Und es scheint, als würden sich vor allem diejenigen für Rossi interessieren, die Geschichte und Stadt auf ein vereinfachendes Ideal reduzieren.

Auf der Eröffnung waren Petra Kahlfeldt, die Senatsbaudirektorin, die derzeit trotz berechtigter Kritik eine Fassadenrekonstruktion der Schinkel’schen Bauakademie forciert, und ihr Vorvorgänger Hans Stimmann, der Berlins brachliegende Mitte nach dem Mauerfall mit Blockrandbebauung und Einheitsfassaden zurück in ein Preußen des frühen 19. Jahrhunderts bringen wollte. Und es waren viele Architekten dort, die in einer Stadtplanung hin zu einem vermeintlich historischen Berlin mit steinernen „Bürgerhäusern“ und Kolonnaden auch gute Geschäfte machen.

Unterstützt wird die über drei Jahre hinweg vorbereitete Ausstellung von dem Moskauer Architekturbüro Speech, mitgegründet von Sergei Tchoban. In Russland hat Speech kürzlich einen Bau für die Tretjakow-Galerie fertiggestellt. Auf Nachfrage macht Sergei Tchoban jedoch deutlich, dass er seit Beginn des Angriffskriegs in Russland nicht mehr tätig ist. „Ich bin von dem Verbrechen meiner Heimat tief enttäuscht“, schreibt er.

Sozialer Wohnungsbau an der Berliner Kochstraße

In der Ausstellung sieht man: Aldo Rossi hat viel für Berlin entworfen und ein wenig in der Stadt gebaut. Wie verwegen und vieldeutig er auf historische Formen zurückgriff, zeigt sein Gebäude für die Schützenstraße aus der Wendezeit. Zwar eingefügt in die Blockrandbebauung der Friedrichstadt, zitiert Rossi hier Michelangelos Forum Romanum, um es zugleich mit pinken und grünen Fassaden poppig aufzuknacken.

Subtiler, vielleicht noch spielerischer ist sein gemeinsam mit Gianni Braghieri entworfener sozialer Wohnungsbau für die Internationale Bauausstellung 1984/87 ein paar Meter weiter an der Berliner Kochstraße. Aus dem mächtigen Backsteinkorpus brechen unten kleinteilige Geschäftszeilen heraus und stechen oben hohe spitze Satteldächer empor. Die exponierte Ecke zur Straßenkreuzung ist über vier Etagen weggekappt, um von einer wuchtigen, weißen Säule verstellt zu werden. Ein langer Spalt öffnet sich hinter ihr in der Wand, er führt zum grünen Innenhof.

Rossi und Bra­ghieri haben für die Passanten und Bewohner des Sozialwohnungsblocks ein illustres, ironisch verformtes Szenenspiel an eine viel befahrene Berliner Hauptstraße gesetzt. Eine Bühne, die monumental verrammelt ist.

Die internationale Bauausstellung 1984/87 sollte unter dem Leitbild einer „kritischen Rekonstruktion“ der historischen Stadt eine entleerte Berliner Innenstadt wiederbeleben, Wohnen und Arbeiten neu verbinden. Der IBA-Leiter Josef Paul Kleihues griff dafür auch auf Aldo Rossis Theorien zurück.

Und als sich die Brachflächen in Berlin nach dem Fall der Mauer um ein Vielfaches erweiterten, wandelte sich die Ausdeutung einer „kritischen Rekonstruktion“ in Richtung eines vereinheitlichenden, aus der Zeit des Klassizismus tradierten Stadtbilds, wie es auch Hans Stimmann während seiner Amtszeit bis 2006 vorsah. Was Aldo Rossi über diese Dehnung seiner Stadttheorie in Berlin denken würde, weiß man nicht. Er ist 1997 bei einem Autounfall gestorben.

Tabula-rasa-Avantgarde mit historischer Substanz

Aber die vielen Zeichnungen in der Tchoban Foundation vermitteln dafür Rossis Idee von der Stadt – und die scheint sehr anders zu sein. Immer wieder skizziert Rossi sie als eine dichte, von Türmen, Monumenten und Wohnhäusern gedrängte Szenerie. Großer Maßstab und Kleinteiligkeit wechseln einander ab, Passagen öffnen sich zu Plätzen, Kräne, Baustellen, kleine Giebelhäuschen und modernistische Architekturskulpturen ergänzen sich.

Man meint, bei seiner 1987 locker dahingezeichneten Fantasie einer vertikalen Stadt mit den Bicocca-Türmen auch im Hintergrund El Lissitzkys Wolkenbügel zu erkennen, jenen utopischen Entwurf für einen horizontalen Wolkenkratzer. Die Tabula-rasa-Avantgarde, sie gewinnt bei Rossi eine historische Substanz. Und sie gehört nicht ihrerseits abgerissen, was derzeit – allen ökologischen Bedenken zum Trotz – vielerorts missverstanden wird.

Rossis Zeichnungen zeigen eine vielfach geschichtete, heterogene Stadt, die viele Widersprüche in sich trägt, wie es das urbane Zusammenleben heute eigentlich erfordert. Und seine Bilder haben etwas Surreales, zugleich ganz Alltägliches. In eine an Brooklyn erinnernde Stadtszene zeichnet er neben einen Brownstone mit Feuerleiter eine monumentale Kaffeekanne.

Die Kanne ist ein häufiges Motiv bei Rossi, dessen Bedeutung er 1981 einmal im Gespräch mit dem Architekturtheoretiker Heinrich Klotz in etwa so erklärte: „Und so kommen die Leute und reden von der Democrazia Cristiana, von Kommunismus und Sozialismus – alles ganz schön, aber was mich interessiert, das ist der Mensch. Ich denke über das nach, was selbstverständlich erscheint.“

Aldo Rossi bleibt irgendwie rätselhaft und auch politisch in viele Richtungen deutbar. Doch man kann seiner gebauten, gezeichneten und theoretischen Architektur trotzdem viel abgewinnen. Insbesondere, dass er Kunst und Leben zusammenbringt, dass er dem Humorvollen und Spielerischen für die Allgemeinheit Platz macht, das Schöne und Widersprüchliche in den öffentlichen Raum bringt. Das „Teatro del Mondo“ oder vielmehr diese kleine Bühne zum Garten hinter der monumentalen Säule.

Es verwundert nicht, dass auch der Bildhauer Thomas Schütte ein Rossi-Fan ist und seinerseits Zeichnungen von ihm besitzt. Schütte hatte 1987 für die Skulpturprojekte in Münster den Harsewinkelplatz mit einer monumentalen Säule aus Baumberger Sandstein und einem knallig glänzenden Paar Kirschen „garniert“. Sie steht da immer noch.

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