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Berliner Ausstellung über Semiha BerksoyExzess all Areas

Semiha Berksoy ist Kunst- und Operndiva und erste „Staatskünstlerin“ der Türkei. Im Hamburger Bahnhof in Berlin ist nun eine Retrospektive zu sehen.

Semiha Berksoy: Stehendes Selbstporträt von 1968 Foto: Courtesy Nachlass von Semiha Berksoy und Galerist

„Ich bin ein Gesamtkunstwerk, eine Synthese aus allen Kunstformen.“ So ungebrochen, wie Semiha Berksoy 2003 den Kurator Hans Ulrich Obrist in einem Gespräch beschied, würde sich heute kaum ein:e Künst­le­r:in mehr mit einer Formel beschreiben, die nach Genieästhetik und Selbstüberschätzung riecht.

Doch die türkische Operndiva, die 1998 als erste Frau ihrer Heimat mit dem Titel „Staatskünstlerin“ ausgezeichnet wurde, war kein Mensch von Bescheidenheit. „Ich war schon immer ein Star“, hämmerte sie Kurator Obrist ein, ein Jahr bevor sie 94-jährig in Istanbul an den Folgen einer Herzoperation starb.

Misst man das Werk der Ausnahmekünstlerin an der „Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“, die der Philosoph Odo Marquard als Kriterium für Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk aufstellte, kam sie der Idee ziemlich nahe. Nachvollziehen lässt sich das jetzt in der großen Retrospektive im Hamburger Bahnhof.

Grenzgängerin zwischen Musik und bildender Kunst

Zum ersten Mal breiten die Kuratoren Sam Bardouil und Till Fellrath, die Direktoren des Berliner Hauses, in diesem Umfang das Werk einer Grenzgängerin zwischen Musik und Bildender Kunst und einer solitären Pionierin weiblichen Kunstschaffens aus. In der Türkei genießt Berksoy Kultstatus. Ihr Vater war der Dichter Ziya Cenap Bey, die Mutter Fatma Saime Hanım Malerin.

Semiha Berksoy Retrospektive

Semiha Berksoy: „Singing In Full Color“. Hamburger Bahnhof, Berlin, bis 11. Mai 2025. Katalog 20 Euro

Schon im Kindergarten soll sich das junge Mädchen, 1910 in Istanbul geboren, als Opernsängerin versucht haben. Nach dem Studium der Malerei und Keramik trat es im Istanbuler Stadttheater in einer Gogol-Inszenierung auf. Muhsin Ertuğrul, sein Leiter, war von der Debütantin so begeistert, dass er sie 1931 in „Die Straßen von Istanbul“, dem ersten Tonfilm der Türkei, auftreten ließ.

Dem Staatsgründer und Kulturrevolutionär Atatürk schien die selbstbewusste Dame prädestiniert als Protagonistin seiner Idee einer modernen türkischen Frau. 1934 spielte sie beim Staatsbesuch des Schahs von Persien in Ankara die Hauptrolle in der ersten, von Atatürk in Auftrag gegebenen türkischen Oper „Özsoy“.

Mit Staatsstipendium in Berlin

Mit einem Staatsstipendium durfte sie später an der Musikhochschule Berlin studieren. Obwohl sie nur ein paar Jahre blieb, war die Stadt prägend für sie. In Archivstücken der Schau liest man, wie die Hitlerjugend damals gegen die erste türkische Primadonna in einer Aufführung in Europa Front machte.

„Singing in Full Colors“ – mit dem Titel spielen die Kuratoren in Berlin auf Berksoys Multitalent als Sängerin, Performerin und Malerin an. Mit acht monumentalen Kulissen, auf denen sich die Diva in den Hauptrollen von Opern wie „Ariadne auf Naxos“, „Salome“ und „Tosca“ darstellte, verwandeln sie den Museumsraum zu der Bühne, auf der Berksoy ihre Opern wie ihr Leben aufführte.

Was diese Arbeiten mit ihren Malereien verbindet, die sie ab 1972 begann, ist der naive, hochexpressive, emotionale Stil. Ihr mit rotem Bleistift gestricheltes Selbstporträt von 1928 war noch realistisch-kokett wie für ein Modemagazin. In dem „Nude“ betitelten aus dem Jahr 1996 wird sie zu einer kubistischen Fratze, in seiner groben Abstraktion, nahe an Graffiti und Comic.

Obsessive Porträts des Geliebten

Berksoy lebte ein Leben im Austausch mit den Seelen ihrer Lieb(schaft)en, unter ihnen auch der kommunistische Dichter Nâzim Hikmet. Regelmäßig besuchte sie ihn im Gefängnis und porträtierte ihn obsessiv. Gleich zu Beginn empfängt die Besucher das Bild „My Mother the Painter Fatma Saime“ von 1965. Der Tod der Mutter 1918 prägte die achtjährige Semiha nachhaltig und sorgte für den Grundton zwischen Schmerz und Begehren in ihren Werken.

Die privaten (Liebes-)Bindungen waren die wichtigsten Inspirationsquellen der Künstlerin. Sie hielt sie durch ihre Bilder am Leben und verdichtete sie in ihrem Werk zu einer Vorform der „Individuellen Mythologien“, denen der Kurator Harald Szeemann 1972 seine documenta 5 widmete. Berlin bot noch einmal das Podium für ihre zweite Karriere.

1969 hatte sie ihre erste Einzelausstellung im Haus am Lützowplatz. „Autobiographisches geht bruchlos in Mythisches über“, notierte dazu der Kritiker der Welt. Zum Sinnbild dieses Ineinsfallen von Kunst und Leben wurde ihr mit Erinnerungsstücken vollgestopftes Istanbuler Schlafzimmer, ihr ganz privates Kunstuniversum. Kuratorin Rosa Martinez verfrachtete es 2005 auf ihre „Always a little further“-Biennale nach Venedig.

Aktuell ist Berksoy nicht nur, weil sie das Inbild einer selbstbestimmten, keinen Exzess scheuenden Künstlerin ist, deren Leben und Werk sich aus den, von den derzeitigen Machthabern am Bosporus verdrängten, emanzipatorischen Ursprüngen der Türkischen Republik speist. Ihr Œuvre ist auch verblüffend anschlussfähig an das Dramatische, Performative, Queere und Transgressive der Gegenwartskunst.

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