Buch zur Philosophie der Postmoderne: Die Gegenwart denken
Philosophie im Herrenclub: Daniel-Pascal Zorns „Die Krise des Absoluten“ erklärt den Kern des Denkens von Lyotard, Deleuze, Foucault und Derrida.
Als philosophische Postmoderne gilt das Werk von vier französischen Denkern, die – allesamt zwischen 1924 und 1930 geboren – oft des Relativismus, der begrifflichen Unschärfe sowie einer letztlich unbegründeten Kritik beliebiger Herrschaftsverhältnisse beschuldigt werden. Daniel-Pascal Zorn will diese Vorurteile entkräften. Er webt in seinem Buch „Die Krise des Absoluten“ einen philosophiegeschichtlichen Teppich, der dem lesenden Publikum helfen soll, den vernünftigen Kern des Denkens von Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Michel Foucault und Jacques Derrida nachzuvollziehen.
Daniel-Pascal Zorn: „Die Krise des Absoluten: Was die Postmoderne hätte sein können.“ Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 656 Seiten, 38,- Euro.
Hegels Diktum, dass Philosophie ihre Zeit in Gedanken gefasst sei, folgend, erzählt Zorn – nicht ohne den neukantianischen Imperativ, Genesis und Geltung auseinanderzuhalten, zu befolgen – die Lebensgeschichten dieser vier Philosophen vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und zwar so, dass man diesen Männern – und es sind ausschließlich Männer, von Simone de Beauvoir oder Hannah Arendt erfährt man nichts – fast zu nahe kommt. So lernen wir den Dekonstruktivisten Derrida als „Jackie“ und den Machtkritiker Foucault als „Paul-Michel“ kennen – als junge Männer, die sich allesamt am Erbe des englischen Empirismus, der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und vor allem am Denken Martin Heideggers und Edmund Husserls abarbeiteten.
„Absolutes“ ist kaum vorstellbar
Der rote Faden dieses Denkens ist die seit dem späten Mittelalter, seit Nikolaus Cusanus (1401–1464), anhebende Bewegung, mit der Einsicht klar zu kommen, dass ein „Absolutes“, das manche als „Gott“ bezeichnen, angesichts der Vielfalt der Welt und der radikalen Umwälzung aller Lebensverhältnisse kaum noch vorstellbar ist.
Aber auch andere Denkschulen werden in ihrer Genese, und das heißt in der Lebensgeschichte ihrer Vertreter genannt: etwa die Kritische Theorie, deren wichtigster Exponent Theodor W. Adorno hier stets als „Teddie“ auftritt. Diese plumpe Vertraulichkeit wird einem anderen Denker nicht zuteil, dem – wie es dem Autor dieser Zeilen scheint – heimlichen Helden des Buches, dem Münsteraner Philosophen Joachim Ritter (1903–1974), nach dem eine ganze Denkschule benannt wurde, zu der Odo Marquard, Robert Spaemann oder Hermann Lübbe gehörten. Kein Zufall ist daher, dass Zorn Joachim Ritter als Autor hervorhebt, der seinerzeit über Cusanus seine Dissertation schrieb.
Unterhaltsam und doch stets begründet
Joachim Ritter, der in seiner Studienzeit sowohl von dem jüdischen Neukantianer Ernst Cassirer als auch von dem zeitweise nationalsozialistischen Martin Heidegger geprägt wurde, war in seinen frühen Jahren Kommunist, später mit einer jüdischen Frau verheiratet und gleichwohl – oder deshalb? – einer der Unterzeichner des „Bekenntnisses deutscher Professoren zu Adolf Hitler.“ In seinen Nachkriegswerken, vor allem an einer Rekonstruktion von Hegels Geschichtsphilosophie orientiert und von dessen Lehre der „Entzweiung“ der modernen Welt geprägt, galt Ritter Vertretern der Kritischen Theorie als Ausdruck einer philosophischen Rechtfertigung des Status quo und mithin als konservativ.
Man mag zu Zorns Vorlieben stehen, wie man will, ich jedenfalls habe lange kein Buch gelesen, das die Geschichte der europäischen Philosophie seit dem Spätmittelalter und der Aufklärung so unterhaltsam und doch stets begründet narrativ rekonstruiert – was gleichwohl nicht davon befreit, bei der Lektüre Aufmerksamkeit und Geduld zu investieren.
Befremdlich wirkt indes nach beinahe 600 Seiten Zorns angefügter „Epilog“, der offensichtlich in einem gleißend hellen Philosophenhimmel spielt, in dem sich ein Herrenclub, nämlich Jackie, Jean-François, Teddie, Heinz, Michel und Joachim über Zeiten und Räume hinweg unterhalten und Zeugen etwa folgender Szene werden: „Es ist schön, sagt Teddie, dass ihr hier, an diesem seltsamen Ort, Gemeinsamkeiten gefunden habt. Aber vergessen wir darüber nicht die Differenzen, die uns voneinander unterscheiden. Wir sollten dem Drang widerstehen, alles miteinander zu vermitteln.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Debatte um Bezahlkarte
Hundegulasch und Auslandsüberweisungen
Nach Recherchen zum Klaasohm-Fest
Ab jetzt Party ohne Prügel
Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Wirbel um Schwangerschaftsabbruch
Abtreiben ist Menschenrecht
„Wrapped“-Marketingkampagne von Spotify
Nicht einwickeln lassen!