Bericht über Atommüll-Endlagerung: Ton, Steine, Scherben

Die Bundestagskommission hat einen Abschlussbericht angefertigt. Der enthält zwar eine Einigung, aber keine einvernehmliche Lösung.

Ein Stapel gelbe Metallfässer steht am Ende einer Art Höhle

Blick ins Endlager für schwach- und mittelradioaktiven Atommüll in Morsleben Foto: dpa

BERLIN taz | Montag, 27. Juni, viertel vor zehn abends im Berliner Regierungsviertel. An der Garderobe des Europasaals im vierten Stock des Bundestags steht ein TV. Island führt 2:1 gegen England. Die Endlagerkommission des Parlaments ist in der Verlängerung. Es ist die letzte Sitzung, der Abschlussbericht muss fertig werden.

Robert Habeck, grüner Umweltminister von Schleswig-Holstein, steht in Jeans und grauem Pullover vor dem Bildschirm. Gibt es Parallelen zwischen dem EM-Spiel und der Arbeit der Kommission? „Na, ich weiß nicht“, sagt Habeck und reibt sich müde über den Stoppelbart: „Die haben schon drei Tore geschossen. Bei uns hat sich in den fünf Jahren nach Fukushima nicht viel bewegt. Wir müssen endlich von der Theorie zur Praxis kommen.“

Immerhin: In dieser Nacht beschließt das Gremium, wie Deutschland in Zukunft nach einem Endlager für seinen Atommüll suchen soll. Seit 2014 haben 33 Experten und Parlamentarier um Kriterien gerungen, bis zum Schluss bleiben manche umstritten. Am Ende geht es auf 615 Seiten unter dem Titel „Verantwortung für die Zukunft“ um elf geowissenschaftliche „Abwägungskriterien“, um Transparenz – und darum, ob das Strahlengrab am besten in Salz, Ton oder Granit liegen soll.

Es geht aber auch darum, Recht zu behalten; um wissenschaftliche Karrieren auf beiden Seiten der Barrikade; und um 40 Jahre Wut und Widerstand. Es geht um Ton, Steine, Scherben. Und immer wieder: um Gorleben.

Es geht immer wieder um Gorleben

„Jede Äußerung in der Kommission war von Gorleben belastet“, sagt Klaus Brunsmeier. Der ruhige Sauerländer mit dem weißen Haarschopf wirkt angespannt. Kein Wunder: Der Vertreter des Umweltverbands BUND votiert als Einziger der 15 Stimmberechtigten gegen den Gesamtbericht. Brunsmeier stört, dass die Kommission keine eindeutiges Urteil zum Salzstock fällt. Das war auch gar nicht ihr Auftrag, sagt die andere Seite.

Mit einer Trecker-Demo wollen Gorleben-Gegner heute in Berlin gegen den Bericht der Endlagerkommission protestieren.

In einem Sondervotum kritisiert der BUND, es sei unklar, welcher Müll ins Lager solle, in welchem Gestein gesucht werde, wie Klagen aussähen – und was mit Gorleben passiert.

Auch Sachsen, Bayern, Die Linke, der BDI und ein Wissenschaftler aus der Kommission haben Sondervoten vorgelegt.

Heute wird der Bericht Bundestagspräsident Lammert (CDU), Bundesumweltministerin Hendricks (SPD) und den Medien präsentiert. Dann haben die Umweltverbände das Wort. (bpo)

Gorleben ist überall – das alte Motto der Anti-AKW-Bewegung hat die Arbeit der Endlagerkommission geprägt. Als der Bundestag sie 2014 einsetzte, war die Gelegenheit für einen Kompromiss so günstig wie nie: Energiewende auf dem Weg, Atomausstieg besiegelt, Große Koalition in Berlin, grüne Umweltminister in den Ländern. Zeit für eine Klärung – wäre da nicht das Gespenst von Gorleben.

Nicht einmal auf eine gemeinsame Historie des Kampfs um Gorleben konnte man sich einigen

13 Stunden sitzt die Kommission an einem runden Tisch mit Blick auf die Spree. Die Vorsitzenden Michael Müller und Ursula Heinen-Esser, ehemals Staatssekretäre im Bundesumweltministerium, leiten das Gremium, das den Bericht Kapitel für Kapitel abstimmt: „Zustimmung? Gegenstimmen? Enthaltungen? Dann ist das so beschlossen.“

Überzeugt werden muss niemand

Die meisten Redner halten sich kurz. Hier wird niemand mehr überzeugt. Konzentriert beugen sich Experten und Politiker über gelb unterlegte Textpassagen. Stundenlang. Bis der Bericht um 0.23 Uhr mit deutlich mehr als der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen wird. Er liefert geologische Kriterien, ein Verfahren für die Auswahl von Regionen – und die Einschätzung, dass alles viel länger dauern wird als geplant. Aber der Papierklotz von 615 Seiten liefert den Abgeordneten des Bundestags nicht, was sie heimlich gehofft hatten: eine Lösung für den heftigsten und längsten Streit der deutschen Atompolitik.

Mit einer „weißen Landkarte“ sollte die Suche beginnen, so das Versprechen: keine Festlegung auf Gorleben, aber auch kein Ausschluss. Kapitel 4.1.4 des Berichts zeigt, wie schwer das ist: Zur Historie des umkämpften Orts gibt es zwei Versionen, die sich in zwei Druckspalten nebeneinander über 29 Seiten ziehen.

Die Sicht der Atomgegner schildert Text A: die Trick­serien von Bund und Land seit der Entscheidung für Gorleben 1977, den Wahnwitz der Planung, die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Bevölkerung. Teil B konzentriert sich auf die Sicht der Behörden und ihrer Ingenieure. In manchen Fällen widersprechen sich die Versionen diametral.

Auch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) meldete sich bei den Sitzungen zu Wort und verteidigt ihren alten Standpunkt, Gorleben sei geeignet. Dann zeigen Recherchen der Süddeutschen Zeitung, dass die BGR von Stiftungsgeld der Industrie profitiert hat, mit dem unter anderem Pro-Gorleben-Gutachten bezahlt wurden – alte Vorurteile über Kungelei von Politik und Industrie werden bestätigt.

Streit um einen Schlusssatz

An diesem letzten Montag kocht der bittere Streit noch einmal hoch, wer nun das letzte Wort behält. Brunsmeier will einen Schlusssatz in Kapitel 4.1.4 einfügen lassen, der bereits im Frühjahr die Kommission fast gesprengt hätte. Aus den Erfahrungen all der Pannen sei zu folgern, dass Gorleben „politisch nicht durchsetzbar ist“. Die Passage hatte der Kovorsitzende Müller in den Text schrei­ben lassen, weil es „den allgemeinen politischen Konsens abbildet“, wie er sagt. Doch die Vertreter von Union, Stromkonzernen und Atomwissenschaftlern wehren sich heftig. Für sie ist die Aussage nicht vom Auftrag der Kommission gedeckt.

Als Brunsmeiers Antrag niedergestimmt wird, sind die Grünen Robert Habeck und die Bundestagsabgeordnete Sybille Kotting-Uhl nicht im Saal. Es soll nicht so aussehen, als hätten sie sich indirekt für Gorleben ausgesprochen. In der Runde sitzen drei grüne Umweltminister, neben Habeck noch Franz Untersteller aus Baden-Württemberg und Stefan Wenzel aus Niedersachsen. Ironie der Geschichte: Jahrzehntelang hat die Ökopartei die Atomkraft bekämpft; jetzt macht sie sich unbeliebt, weil sie dieses dreckige Erbe regeln hilft. „Ein bisschen verrückt ist das schon“, meint Wenzel. „Aber besser wir als die, die in der Asse so geschlampt haben.“

Im Europasaal ballen sich ein paar hundert Lebensjahre Pro- und Anti-AKW-Bewegung. Der Ton ist geschäftsmäßig, aber auch schnell beleidigt oder spitz. Und wenn es ernst wird, duzen sich viele der Kontrahenten plötzlich.

Michael Sailer vom Öko-Institut ist der heimliche Chef des Gremiums. Der massige Mann mit den langen grauen Haaren und dem grauen Schnauzer über der randlosen Brille ist gefragt, wenn es um inhaltliche oder textliche Fragen geht. „Dieser Satz muss da gestrichen werden“, sagt er in seinem bedächtigen Hessisch – und dann wird dieser Satz da auch gestrichen. Auf Sailers Expertise vertrauen alle: „Michael, kannst du mal übernehmen?“

Der personifizierte Atomfilz

Am Tischende sitzt Bruno Tho­mauske. „In der Debatte haben wir verloren“, sagt der Professor vom Institut für Nukleare Entsorgung und Techniktransfer an der RWTH Aachen. Er trieb als Endlagerexperte beim Bundesamt für Strahlenschutz den Bau von Gorleben voran, dann ging er zum Atomkonzern Vattenfall und plädierte noch 2012 als externer Gutachter des CDU-Umweltministers Peter Altmaier für den Standort. Die taz nannte ihn mal den „personifizierten Atomfilz“.

Thomauske gibt dem Bericht die Schulnote „gut“. Das Gespenst von Gorleben sei sogar hilfreich: „Es zwingt zur Einigung“. Wenn der nächste Anlauf scheitere, werde man in 20 oder 30 Jahren doch wieder auf Gorleben kommen. Immerhin hat die Industrie dort schon 1,6 Milliarden Euro verbaut.

Eine „breite Zustimmung in der Gesellschaft für das Auswahlverfahren“ wünscht sich die Kommission. Aber das Gespenst von Gorleben ist zäh. Gegner wie Wenzel und Müller sagen: Wenn man die Kriterien des Berichts richtig anwendet, ist der Salzstock raus. Thomauske widerspricht: Die Suche sei „ein offenes Feld“. Wird sie einfacher, wenn die nächste Generation von Politikern die Entscheidungen fällt, die sich nicht die Fehler und Verwundungen aus 40 Jahren vorwerfen? Kommissionschef Michael Müller ist skeptisch: „Sobald irgendwo die Bagger rollen, ist der Protest wieder da.“

So lange muss er gar nicht warten. Schon einen Tag nach der Einigung in Berlin kennt Bayerns Umweltministerin Ulrike Scharf (CSU) offenbar schon das Ergebnis aller Expertisen, die jetzt erst anfangen sollen: Gesteine in Bayern seien „für die Endlagerung nicht geeignet, das gilt für Granit, Ton und Salz.“

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