Beratungsstelle in Thüringen vor dem Aus: Fehlendes Geld für Shitstorm-Hilfe
Die Thüringer Beratung für Betroffene von Hate Speech wird gut angenommen. Trotzdem muss sie vorerst schließen, weil das Ministerium trödelt.
Wer im Internet beschimpft, bedroht oder angegriffen wird, weiß häufig nicht, wie er oder sie sich dagegen wehren kann. Im Juni hat in Thüringen eine Beratungsstelle eröffnet, die sich für Betroffene politischer Hassrede im Netz einsetzt: elly.
„Wir informieren Betroffene über mögliche rechtliche Schritte, bieten psychosoziale Beratung an und begleiten sie auf Wunsch zu Terminen bei Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft“, sagt Joscha Lell, Beraterin bei elly. Darüber hinaus können Betroffene auf der Webseite von elly Vorfälle melden. „Seit unserer Eröffnung haben wir mehr als 133 Fälle von Hassrede registriert, fast täglich kommen neue hinzu.“
Joscha Lell, 26, und ihre Kollegin Laura Gdowzok, 29, sitzen auf einem grauen Sofa in ihrem Erfurter Büro. Lell trägt kurze blonde Haare und einen Nasenring, Gdowzok einen dunkelgrünen Pulli, den oberen Teil ihres Haares hat sie zu einem Dutt gebunden.
Anlaufstellen wie elly, die Betroffene von Hassrede nicht nur online beraten, sondern auch persönlich vor Ort, gibt es längst nicht in jedem Bundesland. „Ein vergleichbares Angebot hat nur Rheinland-Pfalz“, sagt Lell. „Falls die Ratsuchenden nicht in unser Büro nach Erfurt kommen können, kommen wir zu ihnen.“ Neulich seien Lell und ihre Kollegin zum Beispiel nach Jena gefahren, um dort eine Person zu beraten. „Persönlich mit uns zu reden, ist für die Betroffenen sehr wertvoll“, sagt Lell.
Immer Menschen mehr von Hassrede betroffen
Die Anlaufstelle elly gehört zu ezra – der Thüringer Beratung für Betroffene rechter Gewalt. Der Name elly spielt auf das englische Wort ally an, das Verbündete:r bedeutet. Der Anfangsbuchstabe „e“ soll zeigen, dass elly ein Projekt von ezra ist.
Unter Hassreden verstehen die Beraterinnen politisch motivierte Angriffe im Netz, etwa Beschimpfungen, Drohungen oder Abwertungen. „Bei Hassrede geht es weniger darum, eine einzelne Person zu beleidigen, sondern vor allem um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, erklärt Lell. Zu den Motiven der Täter:innen zählten unter anderem Rassismus, Sexismus, Antisemitismus sowie Queerfeindlichkeit.
Wie eine Studie der Uni Leipzig von 2022 zeigt, sind immer mehr Menschen in Deutschland von Hassrede betroffen. Von den rund 1.000 Befragten gaben 24 Prozent an, schon mal Hassrede erlebt zu haben. Bei der gleichen Umfrage zwei Jahre zuvor waren es noch 18 Prozent.
Seit der Eröffnung der Erfurter Beratungsstelle vor fünf Monaten haben 26 Menschen Rat bei elly gesucht. „Sie haben Hass über Instagram, Facebook, Tiktok, Messengerdienste, E-Mails und Foren erfahren – in Form von Textnachrichten, Kommentaren oder Memes“, sagt Gdowzok.
Elly muss vermutlich ab Januar vorübergehend schließen
Zu den Ratsuchenden zählten vor allem Personen, die politisch aktiv seien, sowie LGBTIQ+, BIPoC und Frauen. „Neulich haben wir eine trans Person beraten, die auf Facebook von einem Bekannten gedemütigt wurde. Er hat ihren abgelegten Namen verwendet, um ihre Identität abzuerkennen“, sagt Gdowzok.
Nach der Landratswahl in Sonneberg hätten sich mehrere Personen an elly gewandt, die massiv angefeindet wurden, nachdem sie sich kritisch zum AfD-Landrat in den Medien geäußert hatten. Eine Ladenbesitzerin aus Sonneberg habe zum Beispiel „sehr krasse Drohmails“ erhalten, sagt Gdowzok. Außerdem hätten zahlreiche Unbekannte ihr Geschäft „extrem schlecht“ bei Google bewertet, was einen wirtschaftlichen Schaden verursacht habe.
„Viele der Hilfesuchenden wollen erst mal nur darüber reden, was ihnen passiert ist, andere wollen wissen, was sie tun können, um sich im Alltag wieder sicherer zu fühlen, wieder andere wollen sofort eine Anzeige stellen“, sagt Gdowzok. Noch sei es aber bei keinem der Fälle zu mehr als zu einer Anzeige gekommen. „Die Ermittlungen laufen noch.“
Obwohl das Beratungsangebot sehr gut angenommen wird, muss elly jedoch voraussichtlich ab Januar schließen – für mindestens zwei Monate. Grund dafür ist, dass elly aus Landesmitteln finanziert wird, und der Haushalt für 2024 noch nicht beschlossen wurde. Thüringens rot-rot-grüner Minderheitsregierung fehlen vier Stimmen im Landtag, um den Haushalt zu selbst verabschieden, deswegen ist sie auf Stimmen der Opposition angewiesen. In der Vergangenheit hatte die CDU-Fraktion nach zähen Verhandlungen dem Haushalt zugestimmt. Ob und wann der Haushalt für 2024 verabschiedet wird, ist nicht abzusehen.
Beraterinnen hoffen auf schnelle Lösung
Für elly sind im Haushaltsentwurf 208.000 Euro eingeplant. Die Beratungsstelle kann allerdings erst dann einen Förderantrag stellen, wenn der Haushalt verabschiedet wurde. „Und dann dauert es noch mal zwei bis drei Monate, bis unser Antrag bewilligt wird und wir die Gelder bekommen“, sagt Lell.
Die beiden Beraterinnen mussten sich daher zum 1. Januar 2024 arbeitssuchend melden und die Räumlichkeiten von elly kündigen. „Sollten wir wirklich schließen müssen, wäre das für die Hilfesuchenden fatal. Viele treffen wir nicht nur ein Mal, sondern begleiten sie über Wochen. Wie sollen wir ihnen erklären, dass wir bald nicht mehr für sie da sind?“, sagt Gdowzok.
Gdowzok und Lell sind schon seit dem Sommer mit dem Thüringer Innenministerium im Austausch, das die Beratungsstelle elly fördert. Die beiden Beraterinnen haben dem Ministerium vorgeschlagen, dass sie einen Antrag auf vorzeitigen Maßnahmenbeginn stellen könnten.
„Dann könnte unser Träger – die evangelische Kirche Mitteldeutschland (EKM) – die Gehälter und Miete ab Januar vorstrecken und elly müsste nicht schließen. Der Träger würde dieses Geld dann später vom Innenministerium zurückbekommen, sobald der Haushalt für 2024 verabschiedet wurde“, sagt Lell. „Allerdings hat sich das Innenministerium bis heute nicht entschieden.“
Das Ministerium sagte gegenüber der taz, dass „gegenwärtig Gespräche mit der EKM“ stattfänden. Die Beraterinnen von elly hoffen auf eine schnelle Lösung. „Wir befürchten, dass das Vertrauen in die Beratungsstelle sinkt, wenn wir vorübergehend schließen“, sagt Gdowzok. Das wäre vor allem in Hinblick auf die anstehende Landtagswahl im Herbst 2024 fatal, in dessen Rahmen Gdowzok und ihre Kollegin von einem „deutlich steigenden“ Beratungsbedarf ausgehen.
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