Belastungen in der Coronapandemie: Melodramatischer Clown
Verschleppte Erkältungen kennt man. Aber was ist eigentlich mit verschleppten Gefühlen? Mit denen hat unsere Autorin seit der Pandemie zu kämpfen.
W ir alle kennen verschleppte Erkältungen oder Krankheiten, aber seit Kurzem bemerke ich das auch bei Gefühlen. Hört sich vielleicht merkwürdig an, aber ich habe Gefühle verschleppt, und jetzt holen sie mich mit voller Wucht ein. Wut, Trauer, Verliebtheit, aber auch Neid und Ohnmacht mischen sich unter.
Die letzten zweieinhalb Jahre waren für die meisten von uns eine merkwürdige Phase. Ich bin seit der Pandemie viel mehr alleine, gehe seltener unter Menschen und arbeite viel im Homeoffice. Früher war ich ständig unterwegs, heute strengen mich soziale Situationen an. Ich habe aber auch aufgehört zu trinken, vielleicht hängt es damit zusammen. Alkohol wirkt manchmal wie eine Powerbank für den sozialen Akku und macht Gespräche und Abende leichter und die Morgen danach schwerer.
Ich habe in den letzten fünf Monaten viel erlebt, aber keinen Platz gehabt oder gemacht, um es zu verarbeiten. Es fehlte mir die Zeit, sag ich mir. Aber irgendwie glaube ich es mir nicht so richtig. Ich hab mich verliebt, ich hab mich geärgert, ich hab mich übergangen, überarbeitet und übersehen gefühlt. Ich war stolz, glücklich und dann wieder traurig. Ich war krank und gesund und habe mich über meinen Körper geärgert, der nicht so funktionieren will, wie ich möchte. Dann hatte ich wieder das Gefühl, undankbar zu sein. Es passiert mir doch so viel Gutes in meinem Leben, wie kann ich es wagen, traurig sein?
Zur Ablenkung habe ich mehr gearbeitet, mehr Projekte angenommen. Ich bin spazieren gegangen. Alle sagen, man soll spazieren gehen. Ich habe es gemacht, obwohl ich es wirklich hasse. Ich habe mir dann einfach Spaghettieis gekauft. Bei jedem Spaziergang. Dann habe ich traurige Musik gehört, auf einer Bank gesessen, Spaghettieis gegessen und geweint. Ich musste fast lachen, weil ich mir vorkam wie ein weinender, trauriger und ziemlich melodramatischer Clown. Wer weint schon, wenn er Spaghettieis hat?
Auseinandersetzung statt Ablenkung
Spaziergänge haben also auch nicht geholfen. Ob ich sechs Schritte oder sechs Kilometer laufe, hat an meinem Gemüt nicht viel geändert. Vielleicht erwarte ich aber auch zu viel. Ich flüchte mich in die Arbeit und halbherzige Spaziergänge, weil ich Angst habe, das Erlebte zu verarbeiten. Am liebsten würde ich die Vorspultaste drücken und alles in 1,5-facher Geschwindigkeit fühlen und verarbeiten. So, wie ich es bei allen Sprachnachrichten mache, die länger als zweieinhalb Minuten dauern. Aber das geht leider nicht.
Mein Therapeut sagt dazu: Nehmen Sie sich die Zeit und den Platz, alles in Echtzeit zu verarbeiten. Wovor haben Sie Angst? Was soll schon passieren? – Ich kann es nicht genau sagen. Ich glaube, ich hab Angst, dass alles passiert, ich alles gleichzeitig fühle und zusammenbreche, oder, noch schlimmer, gar nichts passiert, weil ich nichts mehr fühle. Viel länger darf ich das alles aber nicht verschleppen. Das ist weder bei Erkältungen noch bei Gefühlen gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“