Bei den Mayas in Guatemala: Reisen mit Notizbuch
Gesammelte Notrationen von unterwegs: Damit wir nicht vergessen, warum wir gereist sind. Und wieder reisen werden.
M ein Vater liebte es, zu verreisen. Von jeder Tour brachte er ein volles Notizbuch mit nach Hause. „Geistige Notration für schlechte Zeiten“, erklärte er, und wir Kinder schüttelten den Kopf. Als er alt wurde, machten seine Beine nicht mehr mit. Doch nun saß er Tag für Tag an seinem Schreibtisch, studierte seine alten Aufzeichnungen und durchlebte glücklich jede Fahrt ein zweites Mal. Auch heute herrschen ungute Zeiten in Sachen Reisen. Doch auch ich habe über die Jahre Notrationen gesammelt. Und ich teile sie gern. Damit wir nicht vergessen, warum wir gereist sind. Und wieder reisen werden.
Ein Tuctuc-Fahrer bringt uns zu dem Haus in Santiago Atitlán in Guatemala, in dem der Maximón für ein Jahr haust. Im Halbdunkel thront der hölzerne Halbheilige mit dem geschnitzten Gesicht auf einem Stuhl, Hut auf dem Kopf, Zigarette im Mund. Er ist mit Krawatten und Schals behängt und mit Geldscheinen besteckt, eine Mischung aus Maya-Gott und christlichem Sendboten.
Luftballons hängen von der Decke, ein Radio dudelt, Chrysanthemen duften gegen den Kopalrauch an. Im flackernden Licht der Kerzen leiert ein Maya-Priester im Schneidersitz Litaneien, gönnt immer wieder mal dem Maximón ein Schlückchen Rum und dann sich selbst. Gäste kommen, Gäste gehen, noch ein Schlückchen, noch ein Gebet, und, ach ja, zehn Quetzales für das Foto bitte, ein Euro vierzig.
Rund sechs Millionen Maya gibt es heute noch in Mittelamerika. Sie sprechen 21 Sprachen und sind untereinander nicht weniger uneins als zu ihren Glanzzeiten im siebten oder achten Jahrhundert n. Chr., als sie in zwei Dutzend Königreiche aufgeteilt waren. Der größte Teil davon lebt in Guatemala und macht dort fast die Hälfte der Bevölkerung aus. Viele versuchen, sich bestmöglich zu assimilieren und wie Ladinos zu werden, ihre spanischstämmigen Landsleute. Ein Teil aber pflegt die alten Riten, weiß sich der Sonne, den Bergen und Bäumen auf ungewöhnliche Weise verbunden und versucht, die alte Kultur am Leben zu erhalten.
Rohe Bilder
Sträuße gelber Chrysanthemen stapeln sich auf der Kirchentreppe von St. Tomás in Chichicastenango. Glocken läuten, der Himmel ist grau vom Kopalrauch. Zum Klang von Tröten und Flöten schreitet ein Zug von Männern und Frauen in abgewetzten Arbeitsklamotten wie in Feiertagstracht die Stufen herunter.
Die Mitglieder der Laienbruderschaft Jesus Nazareno tragen knielange Hosen, schwarze Jacken und bunte Kopftücher mit langen Fransen. Sie gehen schwer gebeugt unter der Last des Heiligenbildes mit dem silbernen Kreuz. Für ein paar Minuten vibriert die Luft vor Stolz, Hingabe und heiligem Eifer. Denn es ist ihr Umzug, ihr großer Tag, der Dia de Sacramento. Und die Kameras klicken.
Ein paar Tage später sehen wir zufällig „Ixcanul“, einen Film des guatemaltekischen Regisseurs Jayro Bustamente, „Träume am Fuß des Vulkans“. Die Geschichte der 17-jährigen Kaffeepflückerin Maria, die schwanger wird und ihr Kind an eine anonyme Adoptionsvermittlung verliert, rückt einiges an bunter Folklore zurecht und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht einer Mayavermarktung, die deren Dasein gern auf Trachten, Tortillas und Tänze reduziert.
Roh ist der Sex, stressig die Arbeit in „dem Land, das nach Vulkan und Kaffee riecht“, freudlos die Sauferei. Am Ende bleibt als Halt nur die unerschütterliche Liebe der Mutter. Ein weiteres Mal erweist sich die traditionelle Gemeinschaft als das Netz, in dem der Einzelne gefangen bleibt – das ihn aber auch auffängt, wenn er Glück hat.
Genauso gehe es zu in den Dörfern, sagen die beiden Mayafrauen, die im grauen Businesskostüm gekommen sind. Genau dieses wüste, ausgelieferte Leben gebe es, und auch die Opfergaben an den zerstörenden und zugleich Fruchtbarkeit bringenden Vulkan. Diese rohen Bilder des Films nehmen wir mit. Wir entdecken sie wieder in niedergeschlagenen Gesichtern, in schmutzigen Füßen und in den Betrunkenen, die vor Märkten in Ecken liegen und die niemand beachtet oder bedauert. Wie ein Gegengift wirken sie, wenn die Mayawelt wieder einmal nur als ein lächelnder Trachtenverein daherkommt, allzu leicht konsumierbar.
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