Begehbares Kunstwerk in Leipzig: Verzwickte Fragen
Wer seinen moralischen Kompass eichen will, für den gibt es in Leipzig eine „begehbare Zwickmühle“. Ein Selbstversuch im Dilemma.
Ein abgedunkelter, steriler Raum im Leipziger Westwerk – nicht größer als ein herkömmliches Wohnzimmer. Von der Decke hängt eine einzelne Glühbirne, die nur schwach die Ecken beleuchtet. In ihnen stehen rätselhafte Gegenstände wie ein Gehirn im Glas oder eine Spielzeugeisenbahn. Genauer hinschauen wurde mir und meinen drei Mitstreitern im Vorfeld von den Gestaltern Jonas Klinkenberg und Dana Ersing aber erst einmal untersagt, damit nicht zu viel von der ersten Spannung verloren geht. Die Mitte füllt ein Tisch mit vier Stühlen. Darauf steht ein mit schwarzem Sand befülltes Kästchen.
Die Kälte von draußen scheinen wir mit in den Raum gebracht zu haben. Zunächst lädt uns nichts direkt ein zu bleiben, und die unbequemen Wahrheiten, die hier besprochen werden, kann ich förmlich fühlen. Das mulmige Gefühl in der Magengegend wird noch von einer leise säuselnden Frauenstimme im Hintergrund verstärkt. Sie zu verstehen ist schwer und fordert Konzentration – zumeist sind es Worte der Empörung oder Verwunderung.
An diesem Gesamtkonzept haben die Veranstalter über ein halbes Jahr getüftelt. Dabei war es ihnen wichtig, eine andere Realität zu kreieren, wie Dana Ersing erklärt: „Einen Raum zu schaffen, der kein alltäglicher ist. Der nicht aussieht wie ein Wohnzimmer oder eine Kneipe, wo man normalerweise mit Freunden oder Bekannten diskutiert.“
Während die Tür geschlossen wird, setzen wir uns hin und versuchen die letzten ersten Eindrücke aufzusaugen. Gespannt warten Anna, Karla, Heine und ich auf ein Signal, das den Beginn unserer moralischen Reise anzeigt. „Irgendwie gruselig. Ob die uns nun die ganze Zeit zuhören, während wir hier reden?“, gibt Josephine zu bedenken. Schon im Vorfeld haben wir das Gefühl, nicht die richtigen Antworten zu geben. Aber gibt es die richtigen?
Die Künstler: Jonas Klinkenberg ist freischaffender Künstler tätig. Er bewegt sich vor allem im Bereich von Figurentheater, Performancekunst und experimentellen Formaten im Bereich der partizipatorischen Kunst. Zudem ist er als Künstlerischer Leiter am Westflügel unterwegs. Dana Ersing ist Gründerin der Kontaktstelle Wohnen. Diese Organisation hilft Geflüchteten bei der Wohnraumsuche in Leipzig. Außerdem arbeitet sie am Kulturprogramm der Theaterbar froelich und herrlich mit.
Das Publikum: Interessierte an dem Projekt „Dilemma. Eine begehbare Zwickmühle“ können sich unter www.dilemmakultur.de anmelden. Teilnehmen können Gruppen von vier bis acht Personen, das Ganze kostet 80 Euro pro Gruppe.
Fünf Dilemmata
Vorbereitet sind wir auf jeden Fall nicht. Kein Wunder, denn bei der Beschreibung auf der Webseite zum Dilemma-Raum haben sich Jonas Klinkenberg und Dana Ersing reichlich Mühe gegeben, so viel wie möglich im Unklaren zu lassen. Alles, was wir wissen: Auf uns warten fünf Dilemmata, die wir als Gruppe in 60 Minuten lösen sollen. Auf jede Frage darf es nur eine gemeinsame Antwort geben. Welche Dilemmata wir lösen müssen und welche Konsequenzen unsere Entscheidungen haben, ist nicht bekannt.
Vergleichbar ist die Idee hinter der begehbaren Zwickmühle am ehesten mit den sogenannten Escape Games. Bei ihnen werden die Teilnehmer eingeschlossen und müssen Rätsel lösen, um den Raum wieder verlassen zu dürfen. Doch auch wenn alles mit dem Gedanken begonnen hat, so etwas in Leipzig zu etablieren, war Dana Ersing und Jonas Klinkenberg die Idee zu abgegriffen. Etwas Neues sollte her. Deshalb bieten sie statt actiongeladenen Denkspielen bekannte moralische Dilemmata.
Ein kunstvoll gestaltetes Bild wird von einem kleinen Beamer an die Wand geworfen. Es zeigt das Logo der Veranstaltung. Auch hier ist wieder ein rosa Gehirn abgebildet. Plötzlich ändert sich die Folie. Es geht los. Über Mikrofone können die Spielemacher im Nebenraum unseren Unterhaltungen folgen. Das erfahren wir aber erst im Nachhinein.
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Das erste Dilemma erscheint an der Wand, und allein das Lesen kostet einige Minuten. Alle haben das Gefühl, dass der moralische Kompass natürlich nur die eine Antwort zulässt. Doch wenn es um Leben oder Tod geht, ist Schwarzweißdenken fehl am Platz. Das müssen auch wir erkennen.
Eine Frage von Leben und Tod
Würde ich mein Leben aufs Spiel setzen, um einem Fremden zu helfen? Oder nur, um Freunde oder die Familie zu retten? Jonas Klinkenberg sagt dazu mit einem Lächeln: „Das Schöne am Dilemma: Es gibt keine Lösung, und es bleibt auch ein wenig so. Dinge, die man heute sagt, überdenkt man morgen wieder.“
Gut zehn Minuten sind für jede Diskussion angesetzt. Nach etwa fünf werden die zunächst noch allgemein beschriebenen Situationen verschärft, indem persönliche Faktoren wie das eigene Umfeld in die Überlegung mit eingebunden werden. Das erschwert die Entscheidung zunehmend. Dennoch wollen meine Mitstreiter und ich unsere Meinung auch jetzt nicht ändern.
Meinen Weg in die moralischen Tiefen des Dilemma-Raums habe ich zwar mit Freunden angetreten, doch zeigt sich, dass ich einige Seiten an ihnen noch nicht kannte. „Was interessiert mich denn die Katze?“, sagt Anna während einer Aufgabe. Daraufhin werfe ich ein: „Aber es ist doch trotzdem ein Lebewesen.“ Doch für Anna zählt in diesem Fall die Katze eben weniger als der Mensch.
Auf dem moralischen Prüfstand
Diese Überraschungsmomente haben die Organisatoren bereits bei anderen Gruppen beobachtet. Und noch etwas fällt den zweien immer wieder auf: „Es sind Leute, die sich in irgendeinem Moment schon einmal mit Philosophie, Moral oder Ethik auseinandergesetzt haben. In welcher Form auch immer – ob Künstler, Künstlerinnen, politisch aktive Menschen oder Soziologen“, erklärt Jonas Klinkenberg.
Darin liegt auch die Schwierigkeit dieses soziokulturellen Projekts, denn im Grunde gibt es keinen Menschen, dessen moralischer Zeiger nicht zumindest einmal auf den Prüfstand gehört.
Am Ende jeder Diskussionsrunde werden die Ergebnisse mithilfe von Gegenständen symbolisiert. Diese nehmen wir aus Schubladen an der Wand und platzieren sie in das mit Sand gefüllte Kästchen auf dem Tisch. Wie ein Mahnmal thronen sie in der Mitte des Tischs und erinnern uns an die Entscheidungen, die wir getroffen haben. Zum Schluss stellen wir fest: Wir waren eher passiv als aktiv.
Das Bedürfnis kommt auf, mit Jonas Klinkenberg und Dana Ersing über unsere Auswahl zu sprechen. Doch bewerten und belehren wollen die beiden nicht, und eine Antwort auf die Dilemmata können sie ebenfalls nicht liefern. „Das Schöne ist: Das Projekt ist nicht nach 60 Minuten vorbei. Man nimmt das mit raus und diskutiert draußen weiter. Die Hoffnung ist, diese Themen mit in den Alltag zu nehmen“, sagt Jonas Klinkenberg. Und so treten wir nach dieser Erfahrung unseren Weg im Alltag mit mehr Fragen im Kopf als zuvor an.
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