Bedürfnis nach Naturerfahrungen: Ab in die Natur?
Kulturlandschaften wurden über Jahrhunderte von Menschen geprägt und ziehen heute Naturliebhaber an. Über das Verhältnis von Mensch und Landschaft.
ber die Weiten der Hügel zu streifen liegt in der Natur des Menschen. Genau wie durch den Wald zu laufen, am Flussufer die Strömung zu betrachten, im Wasser unter schattigen Bäumen nach Forellen zu schauen. Nicht erst seit der Coronapandemie ist das so, sondern seit mindestens 315.000 Jahren. So alt sind Schädelknochen aus einer Höhle in Marokko, die dem Homo sapiens zugeordnet werden.
Seitdem unsere Vorfahren über Gräser und durch Büsche streunten, seien Menschen genetisch programmiert, ein lebendiges, natürliches und damit lebenserhaltendes Umfeld zu suchen, schreibt der amerikanische Biologe und Ameisenforscher Edward O. Wilson in seinem Buch „The Biophilia Hypothesis“.
Der moderne Mensch brauche Natur und Landschaft wie vor ewigen Zeiten, denn schließlich habe die Spezies die meiste Zeit ihrer Entwicklung in und mit der Natur verbracht. Zwei Millionen Jahre haben Menschen in den Savannen Afrikas gelebt, bevor sie sich vor 120.000 bis 135.000 Jahren von dort aufgemacht haben und die Erde als Jäger und Sammler bevölkerten.
Vor 6.000 bis 7.000 Jahren ließen sich die Europäer nieder, sie domestizierten Tiere und Pflanzen, bauten Hütten und Zäune und entwickelten eine Lebensform, die sie schließlich vor 200 Jahren bewog, scharenweise vom Land in die Städte zu ziehen. Die Fähigkeit in einer Industriegesellschaft zu leben haben Menschen – geschichtlich betrachtet – also gerade erst entwickelt. Und nun fehlen ihnen die Natur und die Landschaft, wie Touristikexpert:innen in Deutschland von Berchtesgaden bis Usedom wissen.
Bedürfnis nach Natur
Sie erzählen vom steigenden Bedürfnis nach Naturerfahrungen, je mehr Zeit die Leute vor Monitoren am Schreibtisch verbringen. Die Menschen suchen nach besonderen Eindrücken und Landschaften. Was sie dabei finden, ist in Deutschland aber keine unveränderte Natur. Es sind Kulturlandschaften, von Menschen über Jahrhunderte geprägt. Mit ihnen verbinden sich neben Naturerlebnissen für viele Heimatgefühle, es sind Tourismusziele, sie haben aber auch eine wichtige Funktion bei der Bewahrung der Biodiversität und im Kampf gegen den Klimawandel.
Mit wadenhohen, lila blühenden Heidesträuchern und dunkelgrünen Wacholderbüschen gehört die Lüneburger Heide zu den ikonischen Landschaften Deutschlands. So wie die Kreidefelsen auf Rügen. Oder die Blumenwiesen des Allgäus. Fotografiert, gemalt, in Heimatfilmen der 1950er Jahre wie „Grün ist die Heide“ verewigt und daher seit Generationen im Landschaftskanon der Deutschen verankert.
„Der Fernblick, der beruhigt massiv“, hört Ulrich von dem Bruch von den Besuchern und Wanderinnen in der Lüneburger Heide oft. „Die Menschen fühlen sich geerdet und sagen, hier kriegen sie den Kopf frei.“ Von dem Bruch ist Geschäftsführer der Lüneburger Heide GmbH. Er war vorher beim Reisekonzern TUI und versteht etwas von Marketing. Regelmäßig lässt er die Besucher der Lüneburger Heide befragen und weiß, was die über 30 Millionen Tagesgäste im Jahr hier suchen. „Sehr viel Landschaft.“
Die meisten Besucher kommen aus den Großstädten Hamburg, Bremen, Hannover und den Orten dazwischen. Hinzu kommen ein paar Millionen aus Berlin und Nordrhein-Westfalen, die auch mal zwei, drei Nächte bleiben. 1,5 Milliarden Euro lassen sie für Übernachtungen, Essen, die Fahrt im Planwagen, ein Glas Heidehonig und Halligalli im Heidepark in der Region Lüneburger Heide.
Vor 3.000 Jahren haben Viehherden der Bronzezeitbauern die heutige Lüneburger Heide kahl gefressen. Von Natur aus würden Rotbuchen und Hainsimsengräser die feuchtkalten Wälder der norddeutschen Tiefebene bilden. Wenn sich nicht vor rund 1.000 Jahren dauerhaft Menschen in der Gegend niedergelassen hätten, wären wohl auch wieder kathedralenartige Buchenwälder gewachsen.
Doch Jahr für Jahr haben die Bauern des Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte die obere Pflanzendecke abgeschabt, in den Stall gebracht und dann den Mist wieder auf den Sand gekarrt, um auf dem kargen Boden Roggen, später auch Kartoffeln anzubauen. Mit der Zeit haben die Menschen den Boden systematisch zerstört, und lila blühende Landschaften der Besenheide Calluna vulgaris sind entstanden.
Damit das auch im 21. Jahrhundert so bleibt, ziehen Tausende Heidschnucken in vierzehn Herden durch die Nord- und die Südheide. Was die Schafe nicht fressen, stutzen, schneiden und brennen Arbeiter ab. Gras macht sich breit, Birken bereiten in der natürlichen Abfolge eigentlich den Boden für Buchen. Die Heide würde ohne die Landschaftspflege von Schaf und Mensch brusthoch zu einem knorzeligen Gestrüpp heranwachsen. Nur geschorene Heidesträucher blühen und verwandeln die Landschaft im Spätsommer in ein leuchtend lila Blütenmeer, das Millionen Besucher sehen wollen.
Die Lüneburger Heide ist eine klassische Kulturlandschaft, was eigentlich eine Tautologie ist, ein weißer Schimmel, denn alles, was nicht Landschaft ist, ist Natur und Wildnis – also ein Ökosystem, in dem Tiere, Mikroben, Pflanzen, Pilze, Algen und all die anderen Lebensformen ohne den Menschen machen können, was sie wollen. In Deutschland ist das Gleichgewicht aus Natur und Landschaft, Kultur und Wildnis, industrieller Nutzung und Ökotop aber verrutscht.
Die Deutschen leben mit ihrem Bodenverbrauch seit Jahrzehnten über ihre Verhältnisse. Sie planieren, asphaltieren, betonieren und bebauen täglich mehr als 50 Hektar. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche hat sich in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland verdoppelt, schreibt das Umweltbundesamt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Endlose Maisäcker verwandeln die Landschaft in etwas Monotones, mit Glyphosat besprühte Felder veröden das natürliche Leben. Die Masse der Insekten ist in den vergangenen 30 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen. Die Mehrzahl der Frösche, Singvögel, Fledermäuse und Fische steht auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten. Nur noch 1 Prozent der Flüsse fließen natürlich, 1 Prozent der natürlichen Auen sind erhalten, lediglich 2,8 Prozent der Wälder in Deutschland gelten als natürlich, also nicht von Menschen gepflanzt und unbeeinflusst.
Da natürliche Ufer, Seen, Wälder und andere Naturlebensräume hierzulande nur in Resten erhalten sind, haben Naturschützer die naturnahe Landschaft zur Natur erklärt. Aus der Lüneburger Heide wurde so 1921 eines der ersten Naturschutzgebiete Deutschlands. Bürokraten unter den Naturschützern ordneten Anfang der 1990er Jahre die verschiedenen Landschaften in Lebensraumtypen. So wurde aus der Lüneburger Heide der Lebensraumtyp „Trockene Sandheiden mit Calluna“, der in der Europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie geschützt ist. Aus Landschaft wurde also Natur.
Die Aneignung der Natur hat eine neue Art der Natur hervorgebracht. Erst durch das menschliche Pflügen, Holzen, Mähen, Schürfen sind Landschaftselemente entstanden, die Insekten, Vögel oder auch bestimmte Pflanzenarten nutzen und besiedeln konnten. So wie die Blauflügelige Ödlandschrecke aus der Familie der Feldheuschrecken auf den kargen Sandböden der Heide einen ihrer letzten Lebensräume in Deutschland hat.
Deswegen ist Landschaft eben auch Natur, so wie die savannenartige Landschaft des ehemaligen Tempelhofer Flughafens in Berlin, auf dem Feldlerchen eine seltene Brutgelegenheit finden.
„Weite ist ein Trend“, sagt der Touristikmanager Ulrich von dem Bruch. Da der Homo sapiens die Weiten Afrikas quasi erst gestern verlassen hat, schätzen Menschen auch heute die offene, mit einigen Bäumen bestandene Landschaft am meisten.
Das haben Experimente der amerikanischen Psychologen Rachel und Stephen Kaplan gezeigt. Sie haben einigen hundert Freiwilligen in den USA, Argentinien und Australien Bilder von natürlichen und künstlichen Landschaften präsentiert. Das Ergebnis: Die Menschen auf allen drei Kontinenten bevorzugten Landschaften, die „man als parkähnlich oder als Steppe oder Savanne bezeichnen kann“. Abgelehnt haben die meisten dicht bewachsenes Unterholz im Vordergrund der gezeigten Bilder. Die Leute bewerteten die Landschaften so, als würden sie sich selbst hindurchbewegen. Sie wollten sie deswegen verstehen, sich darin zurechtfinden und bei Gefahr schnell wieder zum Ausgangspunkt finden können.
Andererseits mögen die Leute auch eine Natur, die die Kaplans als mystery, als Geheimnis, bezeichnen, also eine wilde und undurchsichtige Natur – jedenfalls dann, wenn sie über einen Pfad, einen Flusslauf entlang und über helle Lichtungen erkundet werden kann, um dann auf demselben Weg auch wieder sicher zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung gelangen zu können.
Stephen und Rachel Kaplan deuteten das so, dass die bevorzugten Landschaften einen Teil der evolutionären Entwicklung des Menschen erklären können. Es sei möglich, dass die frühen Menschen, um ausreichend Nahrung und sichere Siedlungsorte zu finden, immer wieder neue Gebiete erkunden mussten, in denen sie nur dann sicher waren, wenn sie sich nicht zu weit von der ihnen bekannten Gegend fortbewegten – also im übersichtlichen und verständlichen Teil blieben.
Menschen siedeln auf Hügeln
Demnach sind die Ideallandschaften in unserem Unbewussten so etwas wie die archetypischen Erfahrungen der Menschheit, sind wir doch in diesen Landschaften evolutionär vorangekommen.
Und noch etwas haben Evolutionsbiologen und Paläopsychologinnen herausgefunden: Menschen siedeln im kollektiven Unbewussten am liebsten auf einem Hügel, von dem sie auf einen See oder einen Fluss in weitem Grasland schauen. Kinder und Erwachsene jeden Alters, ob in den USA oder in Deutschland, zeichnen und erzählen von derselben Landschaft, wenn sie ihre Vorstellung von Natur beschreiben: eine Wiese, durch die sich ein kleiner Fluss schlängelt, sie selbst stehen erhöht und sehen hinter der Wiese in erreichbarer Nähe einen Wald. Manchmal sehen sie vor ihrem geistigen Auge auch einen See inmitten der leicht hügeligen Landschaft und Gras fressende Tiere, die über eine Wiese ziehen.
Im Unterallgäu bleiben die meisten Kühe heutzutage im Stall. Sanft hügelig ziehen sich die Anfang April schon dunkelgrünen Wiesen durch das Voralpenland, unterbrochen mal von einem Fichtenforst und einem Rest Moor in einer Senke. Die Bauern zwischen Memmingen, Bad Wörishofen und Mindelheim füttern ihre Kühe seit Jahrzehnten im Stall mit Silage, also mit gehäckseltem Mais, Sojaschrot und eingemachtem Gras von den Unterallgäuer Wiesen. Anfang April sind die dicken Halme noch zu kurz, doch ab Mitte Mai können die Landwirte mähen, das Gras in hellgrüne oder rosafarbene Plastikfolien verpacken und in der Landschaft stapeln.
Die schweren Mähmaschinen verdichten den Boden, sodass Maulwürfe und Regenwürmer kaum durchkommen. Wenn die Kühe das Hochleistungsfutter aus Gras, Mais und Soja gefressen und verdaut haben, verteilen die Bauern die stickstoffreiche Gülle aus den Ställen auf den Wiesen, damit ertragreiche, stärkehaltige Grasarten fette Ernte bringen.
„Nährstoffe werden importiert, die Scheiße bleibt hier, der Stickstoff läuft ins Grundwasser“, fasst Jens Franke, Geschäftsführer des Landschaftspflegeverbands Unterallgäu, den Kreislauf aus Naturzerstörung und Landschaftsübernutzung zusammen.
In kniehohen Gummistiefeln und Anorak steht Franke auf einer Anhöhe des Unterallgäus, durch das Grau des Regentages erscheinen am Horizont die von der Sonne grauorange angeleuchteten schneebedeckten Alpen. Nur wenige Grasarten und Wiesenblumen können die stickstoffhaltige Düngung mit Gülle verarbeiten. Löwenzahn, Gänseblümchen, Weidelgras, Knäuelgras und vielleicht noch vier, fünf weitere Stickstoff liebende Pflanzenarten wuchern dann auf den Wiesen. Eigentlich könnten da 50 oder 60 verschiedene Kräuter, Blumen und Gräser wachsen, und die mit ihnen verbundenen Schmetterlinge, Bienen, Grashüpfer würden über die Wiese summen.
„Die Landschaft hat ja ein paar hundert Jahre Landwirtschaft auf dem Buckel,“ sagt Franke, der den Beginn der Vernichtung der natürlichen Lebensräume von Tapezierbienen und Goldenem Scheckenfalter bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt hat, als die Zeit der gemeinschaftlich bewirtschafteten Wiesen endete.
Vor rund 200 Jahren wurden die Kirchengüter aufgelöst und die Bauern erhielten kleine landwirtschaftliche Parzellen, die sie künftig einzeln nutzten und zu oft übernutzten, weil die gemeinschaftliche Fürsorge für das Land der Allmende fehlte. Nachdem der Stickstoffdünger erfunden worden war, konnten Wiesen gedüngt und Kühe gemästet werden. Die Bauern wollten kein Heu von artenreichen Streuobstwiesen mehr, sondern Hochleistungsgras für Hochleistungsmilchkühe.
Franke hat historische Landkarten und Gemeindebücher durchforstet. Mit seinem historischen Wissen verhandelt er mit Landräten, Bürgermeisterinnen und Bauern über den Erhalt der Natur von heute. Sein Ziel ist, die größtmögliche biologische Vielfalt aus dem Gegebenen rauszuholen. Sein Kompass der biologischen Vielfalt ist die Rote Liste, die zeigt, welche Tier- und Pflanzenarten in der von Menschen geprägten Landschaft lebten. „Vor dreitausend Jahren, als hier ein paar Kelten rumliefen, waren Moor und Wald bestimmt auch megatoll“, sagt Franke. „Dafür haben wir jetzt die Menschen, die die Natur nutzen, und wir müssen Menschen und Natur miteinander vereinbaren.“
Die Landschaftspflegeverbände bringen vom bayerischen Allgäu bis zur Uckermark in Brandenburg die Natur wieder in die Landschaft. Sie versuchen, Landwirte für eine naturverträgliche Bewirtschaftung zu gewinnen, was erst mal nichts mit Ökolandbau zu tun hat, sondern mit Landnahme – später im Jahr mähen, ein paar Meter am Ackerrand nicht pflügen und nicht bepflanzen, die nasse Senke matschig lassen, den Bach nicht länger stauen.
Für Städter hört sich das einfach an, doch wer je versucht hat, Landwirten einen Ackerrandstreifen abzuluchsen, weiß, wie langwierig solche Verhandlungen sind. Die Landschaftspflegeverbände holen auch die Kommunen und die Landkreise sowie die Naturschützerinnen in den Verein und beratschlagen gemeinsam, wie sie die Lebensräume von Azurjungfer, Kreuzotter, Feldlerche und Erdhummel erhalten können. Und woher das Geld für den Naturschutz in der Landwirtschaft kommt. Denn ohne Geld geht nix im Landschaftsschutz.
Die Idee zur naturfreundlichen Landnutzung hatte Josef Göppel, Forstwirt aus der Nähe von Ansbach in Mittelfranken und von 2002 bis 2017 Bundestagsabgeordneter der CSU. In den 1980er Jahren begann er die Landwirte vom Sinn der Natur in der Landschaft zu überzeugen und gründete den ersten Landschaftspflegeverband, um Naturschützer und Landwirte in einer Organisation zu vereinen und im Gespräch zu befrieden.
Bei einem Besuch der Autorin in Ansbach führte Göppel 2002 begeistert durch Streuobstwiesen, die dank seines Einsatzes und einer alten Mostpresse erhalten geblieben waren. Er erklärte, warum die winzigen Bläulings-Schmetterlinge struppige Magerwiesen brauchen, und hatte zwei Landwirte überzeugt, eine naturfreundliche Mahd vorzuführen. Anstatt die Wiese von einer Seite zur anderen durchzumähen, mähten die Bauern mal links, mal rechts, mal in der Mitte, damit die im Gras lebenden Tiere fliehen können. Göppel hatte sich das mit ihnen ausgedacht.
Als wahrer Naturfreund und überzeugter Klimaschützer wich Göppel mehrfach von der Parteimeinung der CSU und dem Fraktionszwang ab. 2010 stimmte er gegen die von der Union beschlossene Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken. 2018 reichte Göppel zusammen mit anderen Umweltschützern die Klimaklage beim Bundesverfassungsgericht gegen den mangelhaften Klimaschutz der Bundesregierung ein. Und erwirkte damit das Urteil vom März 2021, in dem das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu mehr Klimaschutz aufforderte, um das Leben der nachfolgenden Generationen zu schützen. Während der Recherche zu diesem Text ist Josef Göppel überraschend am 13. April 2022 gestorben.
Im Unterallgäu bringt Jens Franke seit 20 Jahren die Bauern, Bürgermeister und Landräte des Bezirks an einen Tisch, um ihnen den Wert der Natur in der Landschaft zu vermitteln. Viele hat er überzeugt, eine Wiese später zu mähen, wenn seltene Große Brachvögel, Bekassinen oder Kiebitze dort brüten. Die Vögel bauen ihr Nest am Boden. Sind die Küken geschlüpft, flüchten sie aus dem Nest und suchen mit ihren Eltern nach Würmern und Insekten am Boden. Sie brauchen dann niedrig wachsende Pflanzen, um sich zu verstecken.
Wiesenvögel als Indikator
Jahrhundertelang haben Bauern mit der Sense um Johanni, um den 21. Juni, das erste Mal gemäht. Dann sind die Küken der verschiedenen Wiesenbrütervögel geschlüpft. Danach haben die Bauern noch einmal im September gemäht, wenn die Vögel wieder auf dem Zug in ihre Wintergebiete waren. Franke sorgt dafür, dass die Bauern für den wirtschaftlichen Ausfall entschädigt werden, wenn sie später mit der Bewirtschaftung der Wiesen beginnen. Das Geld für den Vertragsnaturschutz kommt von den jeweiligen Bundesländern, aus den Etats der Landkreise für den Erhalt der biologischen Vielfalt oder auch mal von der Bundesregierung.
„Im letzten Jahr haben wir zwanzig junge Kiebitze hochgebracht“, erzählt Franke, und er klingt wie ein stolzer Vater. Dem Großen Brachvogel konnten Franke und die Landschaftspflegerinnen im Unterallgäu aber nicht helfen. Drei Pärchen brüteten jahrelang im Tal der Mindel bei Mindelheim, irgendwann waren es nur noch zwei Paare, dann kam noch ein Paar aus dem Winterquartier zurück. Im vergangenen Jahr flog nur das Weibchen an die Mindel.
„Wiesenvögel sind Indikatorarten für intakte Landschaften“, sagt Franke, dessen Herz als Botaniker vor allem für Pflanzen wie den Großen Wiesenknopf, den zart lila blühenden Sumpf-Storchschnabel und die Riednelke schlägt. Die Riednelke ist ein Überbleibsel der kalten Zeiten am Rande der Alpen und blieb wohl nach der letzten Eiszeit vor 10.000 bis 12.000 Jahren im Flachland. Sie stammt aus kälteren Zonen. Biologinnen sprechen von einem „Glazialrelikt“.
Wo die Riednelke sonst wachsen könnte, können die Biologen nicht sagen, denn nur im Moor des Benninger Rieds bei Memmingen hat sie überlebt. Sie braucht bestimmte Kalkablagerungen, die sich ausschließlich hier bilden, wenn wie zu Zeiten des Illergletschers kohlensäurehaltiges Wasser aus dem Untergrund durch den Kalkboden nach oben drückt.
Der Gletscher ist mit dem Ende der Eiszeit geschmolzen, und nach der Landnahme der Menschen im 20. Jahrhundert drückt sich das Wasser nicht mehr durch die Poren des kalkigen Untergrunds. Das Benninger Ried, zwischen einer Bundesstraße und einer Fabrik für Autowaschanlagen, sieht auf den ersten Blick aus wie ein Moor. Tümpel haben sich gebildet, Weidenbüsche wachsen, aus dem matschigen Grund beginnen Sauergräser zu sprießen. Ein Kiebitz fliegt rufend auf. Doch schon ein Graben verrät, dass Menschen die Landschaft gestaltet haben.
Um die lange Geschichte der Trockenlegung kurz zu machen: Nachdem Einfamilienhäuser und ein Gewerbegebiet auf dem ehemals riesigen Benninger Ried gebaut waren, fiel auch das unter Naturschutz stehende Rest-Ried trocken. Mit Rohren und Kanälen unter der Siedlung und der Fabrik wurde dann wieder Wasser in das Moor gepumpt. „Wir müssen die Urverhältnisse simulieren“, sagt Franke. Aber die Riednelke lässt sich offensichtlich nicht täuschen. Sie merkt, dass das Wasser nicht durch den Kalk nach oben gestiegen ist. Und im Boden sind zu wenige Samen übrig, aus denen die Riednelke selbst heranwachsen könnte.
Biologen des Botanischen Gartens Ulm und Jens Franke ziehen Riednelken daher mit Wasser aus dem Ried nun im Blumentopf und setzen sie im Frühjahr aus. Auch im Benninger Ried haben Menschen aus Landschaft so wieder ein Stück Natur gemacht. Das gestaltete Gebiet rund um das zarte Relikt mit den fliederfarbenen Blüten steht unter Naturschutz und wird von der Europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie geschützt.
Christina Fredlmeier,Wanderwege-Entwicklerin
Landschaftspflege mutet manchmal museal an, doch gerade die wiedervernässten Moore weisen den Weg in die Zukunft im Kampf gegen den Klimawandel. Nasse Moorböden speichern riesige Mengen Treibhausgase im Torf. Wenn der Boden nicht länger von Wasser bedeckt ist, entweichen sie. Der Torfboden selbst drückt sich dann zusammen und sinkt Jahr um Jahr ein bis zwei Zentimeter ab. Je tiefer der Boden, je niedriger der Wasserstand, desto höher sind die Emissionen.
„Die entwässerten Moorböden sind für 7 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen Deutschlands verantwortlich“, haben Wissenschaftler:innen des Greifswald Moor Centrums der Succow Stiftung errechnet. Zusammen mit dem Deutschen Verband für Landschaftspflege haben die Moor-Expertinnen ein deutschlandweites Programm für Landwirt:innen entwickelt, damit sie wieder mehr Wasser in die Landschaft lassen.
Auch das Unterallgäu ist von Natur aus nass. Die Landschaft wäre von Mooren geprägt, doch nur 500 Hektar Moor von ehemals 12.000 Hektar haben im Landkreis Unterallgäu überlebt. In einer Gegend im Kreis, im Hundsmoor, hat Jens Franke den Bauern mal 300 Quadratmeter, mal einen halben Hektar abgeschwatzt und die schmalen Streifen zu 12 Hektar zusammengefügt.
Mit den Landschaftspflegern unter den Bauern hat er das Schilf aus dem Moor geholt, Kiefern und Faulbaum-Sträucher entwurzelt. „Das Moor ist noch klein, aber wenn ich nicht anfange, passiert gar nichts“, sagt Franke. Er hofft, dass er dank des Generationenwechsels in der Landwirtschaft und dem Geld aus dem Artenschutz- und Biodiversitätsetat des Freistaats Bayern das Hundsmoor bald auf 22 Hektar bis zur Günz erweitern kann.
Biber haben die dicken Weiden am kurvenreichen Ufer benagt. Im Moor blühen wieder fingerhohe Orchideen. Seggen und andere Sauergräser breiten sich aus, seitdem nicht mehr Schilf und Faulbäume das Moor verbuschen. Durch die Wiesen entlang des Moores läuft der „Glücksweg“, ein so beschilderter Wanderweg der „Wandertrilogie“, die sich die Allgäu GmbH ausgedacht hat. Die Orchideenwiese im Hundsmoor wird wieder zur Landschaft, die Menschen neu nutzen. Sie wandern, genießen den Blick in die Weite und Natur.
Der gute Wanderweg
„Wandertrilogie“ steht für die drei Landschaften des Allgäus, die von Wiesen, Wasser und Felsen geprägt sind, erklärt Christa Fredlmeier am Telefon. Sie entwickelt seit 20 Jahren deutschlandweit Wanderwege – von der Ostsee bis an die Alpen.
„Ein guter Wanderweg ist schmal, auf keinen Fall asphaltiert, maximal geschottert, er ist abwechslungsreich mit Kurven und geraden Strecken und bietet schöne Aussichten.“
Das Allgäu hat Fredlmeier für die Tourismusagentur Allgäu GmbH von Bayern und Baden-Württemberg in neun „Erlebnisräume“ aufgeteilt. Rund um das landschaftsprägende Schloss Neuschwanstein ist der Erlebnisraum „Schlosspark“ samt Wanderrouten entstanden. Vom alpinen Sonthofen bis zum Nebelhorn wurde die Landschaft zu „Alpgärten“ zusammengefasst. Und weil der Name Unterallgäu in der Vermarktung nicht so zieht, wurden die Wiesen und Moore zu „Glückswegen“ erklärt.
Aber warum diese theoretische Überhöhung von Bergen, Wäldern, Wiesen und den letzten natürlichen Flüssen, wenn Wandern ein Megatrend ist? „Die Landschaftsvielfalt wird dann besser erlebbar“, sagt Fredlmaier. „Mit dem Storytelling machen wir die Landschaft verständlich.“
„Landschaft ist angeeignete Natur“, sagt Kenneth Anders, der die Kultur der Landschaft im Oderbruch nordöstlich von Berlin erforscht und das Oderbruch Museum in Altranft mit seinem Kollegen Lars Fischer leitet. Die beiden betreiben zudem das Büro für Landschaftskommunikation, eine von ihnen erfundene Disziplin.
Als die Biosphärenreservate im Südosten Rügens oder in der Schorfheide-Chorin eingerichtet wurden, haben sie Menschen über die Landschaft ins Gespräch gebracht. „Es gibt verschiedene Aneignungsweisen, die sich im Raum miteinander arrangieren müssen“, sagt Anders. „Landschaft ist immer an die Möglichkeit gebunden, Perspektivvielfalt einzunehmen und unterschiedliche Aneignungsweisen zu finden, die sich miteinander arrangieren müssen.“
Landschaft ist also weit mehr als Heimat oder der erwartete Blick auf Heideflächen, Almwiesen, Kreidefelsen. Landschaft ist der Spiegel der Gesellschaft in der Natur.
Landschaftspfleger Jens Franke sieht das auf den alten Landkarten des Unterallgäus, wo die Bauern einst schmale Streifen Moor erhielten, um Torf zu stechen. Quadratkilometergroße Äcker oder Braunkohletagebauten erzählen dagegen von Energiehunger und anderen Landnahmen der Industriegesellschaft.
„Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass wir in den Landschaften verschiedene Aneignungsweisen ermöglichen und nicht die eine die andere ausschließt oder dominiert“, sagt Kenneth Anders. „Denn die damit einhergehende Segregation führt auch zur Segregation unseres Bewusstseins. Wir sind dann nur noch als Erholungssuchende, als Touristen, Wohnende, Wirtschafter oder Montagearbeiter in der Landschaft.“ Und auch der Begriff Landschaft verschwinde, wenn alles eine Betriebsfläche sei und Menschen auf allen Flächen ackern, bauen, siedeln.
Landschaft braucht also auch Vielfalt, um Landschaft zu sein. Fast wie in der Natur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!