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BVG-Fahren mit SozialticketEin Gefühl von Zwangsouting

Unsere Autorin schildert, wie stigmatisierend es ist, wenn man vor anderen Menschen in Bus und Bahn den Leistungsbescheid der Behörde vorweisen muss.

Zettel her, sonst gibt's Knöllchen: Alltag im Berliner ÖPNV für Leis­tungs­emp­fän­ge­r:in­nen Foto: dpa | Jörg Carstensen

Berlin taz | Stell dir vor, du bist in einer rappelvollen Berliner U-Bahn, liest irgendwas auf deinem Handy und auf einmal hörst du: „Fahrkartenkontrolle. Die Fahrausweise bitte!“ In mir zuckt es dann doch kurz. Ich habe meine Fahrkarte immer dabei – im Portemonnaie. Doch dieser kurze Moment ist da. Nun ploppt seit Oktober zu der Angst noch das Gefühl der Scham auf. Denn stell dir mal vor, du fährst U-Bahn, wirst kontrolliert und beziehst Bürgergeld.

Und du willst nicht, dass das jede Person in der U-Bahn direkt mitbekommt. Seit Oktober gibt es für Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r*in­nen keine BVG-Kundenkarten in Scheckkartenformat mehr. War alles zu kompliziert. Seitdem musst du eine Kopie von deinem Leistungsbescheid mitführen. Dieser ist im DIN-A4 Format. Auch wenn du den Bescheid auf DIN-A5 ausdruckst – du musst das Dokument mehrfach auffalten und dann mit dem S-Ticket (Sozialticket) zusammen vorzeigen.

Ich spüre die Blicke der anderen förmlich. „Ach guck mal, die da kann sich kein normales Ticket leisten.“ Vielleicht denkt auch niemand etwas. Vielleicht ist, wie in Berlin üblich, je­de*r mit sich selbst beschäftigt. Doch gerade in einer sehr vollen U-Bahn kann es unangenehm werden.

Das Thema Datenschutz scheint dann plötzlich auch keine Rolle mehr zu spielen, wenn andere, die dicht gedrängt neben mir stehen, in meinen Leistungsbescheid gucken können. In einem halbleeren Waggon andererseits wirkt das Auseinanderfalten meines Leistungsbescheides schon fast wie ein Theaterstück, eine Persiflage auf die Ohnmacht der Berliner Verwaltung, eine Fahrkarte für Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r*in­nen im Scheckkartenformat ausstellen zu lassen.

Kaum Geld zum Leben

Natürlich bin ich dankbar. Vor 5 Jahren bezahlten Menschen im SGB-II-Bezug, damals noch mit Hartz IV, für ein BVG-Monatsticket AB ganze 27 Euro. Jetzt war es weniger als die Hälfte. Für 9 Euro im Monat konnten „Bedürftige“ wie ich seit Corona Bus, Tram, S- und U-Bahn fahren, so viel sie wollten.

Mit den Sparzwängen und der Haushaltslage sind wir im nächsten Jahr bei 19 Euro. Bei 563 Euro Regelsatz für alles, von Stromkosten bis Zahnpasta, heißen 10 Euro weniger auch drei Vollkornbrote weniger oder das empfohlene Vitamin-D-Präparat den Winter über weglassen oder die 10 Euro über die Berliner Tafel wieder einsparen.

Zwar ist im Regelsatz auch 50,50 Euro für Mobilität vorgesehen, doch hauen die einzelnen Posten insgesamt nicht hin. Der Freizeit-Kultur-Posten geht bei uns für Lebensmittel, Kinderkleidung, Bücher mit drauf. Denn 47,25 Euro sind bei Grund­schü­le­r*in­nen monatlich für Schuhe und Kleidung vorgesehen. Selbst gebraucht kommt man damit nicht hin.

Manchmal tröste ich mich mit dem Gedanken: Vielleicht ist des einen Leid des anderen Glück. Schließlich dauert der Kontrollprozess erheblich länger, da die Kon­trol­leu­r*in­nen die Kundennummer mit der eingetragenen Kundennummer auf dem S-Ticket abgleichen müssen. Der*­die Kontrollierende muss sich also genau meinen Leistungsbescheid angucken. In der Theorie. In der Praxis wird meistens einmal genickt und weiter kontrolliert. Und manche fühlen auch mit: „Lass stecken“, sagte mir der Kontrolleur neulich. Ich packte mein Portemonnaie erleichtert wieder in die Tasche.

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15 Kommentare

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  • Dicke Haut wachsen lassen und es als Ansporn sehen endlich vom Bürgergeld runter zu kommen.

  • Als Familie mit Grundschulkind, die finanziell UNTER Bürgergeldniveau lebt, fehlt mir bei solchen Artikeln jegliche Empathie. Gerade das Thema Mobilität ist auch bei uns ein schwieriges Thema, weil der Kauf jedes einzelnen Fahrscheins abgewägt werden muss, und das geht auf die Lebensqualität, vor allem die des Kindes. Ein BVG Abo für 19€ wäre schon ein Traum für uns, aber die bisherigen 9€ waren einfach absurd niedrig. Wer sich nicht als arm outen möchte, kann doch auf das Abo verzichten? Wo ein Wille, da auch ein Weg. Viele finanzschwache Berliner setzen z. B. aufs Fahrrad, wir auch. Ist gesund und härtet ab.

    Warum die Autorin mit 47€ monatlich(!) für Kleidung und Schuhe eines Grundschulkindes nicht auskommt, ist mir dann auch völlig unerklärlich. Auf so viel kommt bei uns nicht mal die gesamte Familie! Ich finde, Sparsamkeit darf man von Bürgergeldempfängern durchaus erwarten, und gerade bei Kleidung gibt es mehr als genug Möglichkeiten.

    • @funkyelephant2020:

      Mein Respekt "funkyelephant" ! Ich wünsche ihrer Familie, dass es bald aufwärts geht.

  • taz: *Das Thema Datenschutz scheint dann plötzlich auch keine Rolle mehr zu spielen, wenn andere, die dicht gedrängt neben mir stehen, in meinen Leistungsbescheid gucken können.*

    Natürlich gibt es keinen Datenschutz für Bürgergeldempfänger, denn den gibt es nur für Wirtschaftskriminelle. Aus einer Untersuchung der University of London im Auftrag der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im EU-Parlament geht hervor, dass jedes Jahr (!!!) 125 Milliarden Euro Steuergelder in Deutschland hinterzogen werden. Aber gegen Steuerhinterzieher ('Wirtschaftskriminelle') etwas zu unternehmen ist wohl zu schwierig für unsere Politiker, da ärgert man lieber weiterhin Bürgergeldempfänger und demütigt sie im ÖPNV durch das Vorzeigen des Jobcenter-Leistungsbescheides. Den Berliner Kontrolleuren kann man aber keinen Vorwurf machen, denn die müssen halt stur das ausführen was überbezahlte Volksvertreter sich wieder mal ausgedacht haben, um bei armen Bürgern ein paar Euro einzusparen (*keine BVG-Kundenkarten in Scheckkartenformat für Bürgergeldempfänger mehr*). Hatte ich schon von den 125 Milliarden Euro hinterzogenen Steuergeldern in Deutschland erzählt, die jährlich auf "ungeklärte Weise" verschwinden?

  • Bei allem Verständnis, Stigmatisierung wird eben nicht beschrieben. Dazu müssten die anderen Gruppen es registrieren und bewerten. Das scheint laut Schilderung genau nicht zu passieren, weder bei den Kontrolleurinnen noch bei den Umstehenden.



    Es geht um das eigene Gefühl, es könnte passieren. Das eigene Gefühl ist wichtig, aber die Autorin scheint auch damit umgehen zu können. Die Verallgemeinerung versucht andere mit einzubeziehen. Aber vielleicht gibt es das Problem gar nicht.

  • kurze Frage an die taz: Warum ist die Autorin überhaupt auf Bürgergeld angewiesen? Wird sie so schlecht bezahlt?

  • Ansonsten, wer guckt denn bitte schön, was für Fahrscheine die Leute zeigen? Hab ich noch nie erlebt, dass es irgendjemanden in irgendeiner Form interessiert hätte. Und davon ab, wer außer anderen Personen in derselben Situation weiß dass denn mit dem Din-A4 Blatt? Wahrscheinlich keiner. Klingt ziemlich konstruiert dieses "Problem"

  • "das über den Winter empfohlene Vitamin-D?"



    Gute Nachricht für die Schreiberin, sie wird das Vitamin-D Supplement wohl überhaupt nicht brauchen. Wer es nur über den Winter nimmt, kann es auch gleich lassen. Leute die es ärztlich verschrieben bekommen, sind welche die es das ganze Jahr über nehmen müssen.

  • Und wenn man dann eine ausgedruckte DB-Fernfahrkarte auf A4-Papier mit Cityticket auseinander faltet, ist das dann mindestens genau so diskriminierend? Kein Schwein achtet auf so etwas.

    • @TheBox:

      Ihre "Frage" ist leicht zu beantworten: Nein.

      Außerdem, Thema verfehlt oder Derailing ... können Sie sich aussuchen.

      • @Lahmarsch:

        Ich finde den Vergleich nicht so unpassend, wie Sie. Frau Rheim schreibt ja selbst, dass Sie sich eventuell zu viele Gedanken macht und die Mehrzahl ihrer Mitreisenden gar nicht darauf achtet, was sie bei der Kontrolle macht. Und noch weniger weniger werden erkennen können, was auf dem DIN A-4 Blatt steht, einfach, weil sie zu weit entfernt stehen.

        Dass ihr das dennoch unangenehm ist, will und darf ich gar nicht bestreiten. Warum es dafür keine Scheckkarte gibt, wissen nur die, die verstehen, warum die Berliner Verwaltung so umständlich ist - also niemand ;-)

        Und was ist denn "Derailing" , bzw. wer oder was entgleist denn da?

  • Die Autorin schreibt unter ihrem echten Namen über ihre Erfahrung als Bürgergeldempfängerin, aber schämt sich, wenn in der Bahn vielleicht jemand erkennen könnte, dass sie Bürgergeld bezieht? Das klingt eher nach einem konstruierten Problem um des Problems willen, um darzustellen, wie schwer man es als Transferleistungsempfänger hat, als nach einem realen Problem.



    Abgesehen davon, dass es überhaupt keinen Grund gibt, sich für Bürgergeld zu schämen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, seinen Lebensunterhalt nicht anders zu erwirtschaften, interessiert es doch überhaupt niemanden, was man für ein Ticket zeigt. Wahrscheinlich verurteilt einen auch niemand dafür, Bürgergeldempfänger zu sein. Ich wusste vor der Lektüre dieses Texts nicht einmal, dass ich an einem A4-Zettel möglicherweise Bürgergeld-Empfänger erkennen kann, so geht es wahrscheinlich den meisten ( und ein A4-Blatt kann auch ein ausgedruckter Bahn-Fahrschein sein).



    Ich empfinde das ein bisschen als undankbares Gemecker, zumal man ohne Arbeitsweg in der Großstadt nicht unbedingt eine Monatskarte braucht.

    • @Ruediger:

      Ihren Beitrag, der der Autorin die Legitimation für diesen Artikel zum Thema abspricht, empfinde ich als übergriffig und empathiefrei.

      • @Lahmarsch:

        …und schon wird aus der Diskussion eine moralische. Ich lese in dem genannten Beitrag eine inhaltliche Kritik der Argumente, die mir berechtigt erscheint.

  • Mir ist noch nie aufgefallen das die Personen um einen herum darauf achten was man den Kontrollierenden vorzeigt. Es wird erst unterhaltsam wenn jemand nichts vorzeigen kann.