BRICS-Staaten 2014 – China: „Wir sind keine Revolutionäre“

Werden die Brics-Staaten das 21. Jahrhundert prägen? China ist eine starke Wirtschaftsmacht. Politisch ist das System aber verrottet, sagt Wu’er Kaixi.

„Damals waren wir wirklich alle mit dem Fahrrad unterwegs.“ Bild: reuters

taz: Herr Wu’er, ich komme gerade aus Ihrer Heimatstadt Peking.

Wu’er Kaixi: Wie lebt es sich für Sie dort?

An und für sich gut – gäbe es nicht so viele Autos. Sie kennen das Peking von vor 25 Jahren noch als Fahrradstadt. Heute staut sich auf den breiten Fahrradstreifen der Autoverkehr.

Ja, das ist für mich wirklich kaum vorstellbar. Damals waren wir wirklich alle mit dem Fahrrad unterwegs. Ich vermisse mein Pekinger Fahrrad sehr.

Was ist mit ihm geschehen?

Ich habe es am 20. April 1989 verloren. Ich war am Abend zuvor in Richtung Tiananmenplatz gefahren. Vor dem Xinhua-Tor, dem Eingang zum Regierungsviertel, kam es zu einer spontanen Kundgebung. Sie wurde später als erster Zwischenfall bekannt, bei dem es zwischen Demonstranten und der Polizei zu Rangeleien kam. Ich verlor mein Fahrrad bei dem Gewusel. Sehr schade, ich hatte es für 20 oder 30 Yuan gekauft. Damals war das für uns Studenten ein Vermögen. Nach dieser Aktion war das Rad weg.

45, war 1989 einer der prominentesten Studentenführer bei den protesten auf dem Tiananmenplatz. Nach der blutigen Niederschlagung am 4. Juni floh er zunächst nach Frankreich, dann in die USA.

Er lebt heute im Exil in Taiwan. In seiner Heimat Peking war er seit 25 Jahren nicht mehr.

Sie haben nicht versucht, es wiederzufinden?

Eigentlich wollte ich danach suchen. Aber dazu gab es keine Zeit mehr. Die Ereignisse überschlugen sich ja. Bereits am 22. April hatten wir die erste Großdemonstration organisiert, die zweite war am 27. April, einen Tag nachdem ein Leitartikel in der Volkszeitung, dem Sprachrohr der KP-Führung, erschienen war. Darin wurden wir als „Rebellen“ beschimpft. Das war die größte Demonstration überhaupt.

Was genau hatte Sie so verärgert?

Es war der ganze Tonfall. Sie müssen wissen: Wenn in einem Leitartikel der Volkszeitung jemand denunziert wird, dann ist das nicht nur eine Meinungsäußerung von vielen. Es handelt sich um die offizielle Meinung der chinesischen Führung. Sie erklärte uns damit allesamt zu Staatsfeinden. Dieser Artikel markierte den Beginn der Niederschlagung unserer Protestbewegung, die am 4. Juni damit endete, dass Panzer auf uns schossen.

Die Volksrepublik China ist das bevölkerungsmäßig größte Land der Welt (Schätzung Ende 2013: 1,354 Milliarden Einwohner; die Zahl stagniert). Flächenmäßig ist China das drittgrößte Land mit 9.596.961 km(2) (ohne Taiwan, Macau, Hongkong und mit Indien umkämpfte Gebiete).

BIP 2012 (laut Weltbank): 8,227 Billionen $

Wirtschaftswachstum: (laut Weltbank): 2009: 9,2 % 2010: 10,4 % 2011: 9,3 % 2012: 7,8 % 2013 (Schätzung): 7,8 %

Einkommensentwicklung (BIP pro Kopf laut Weltbank): 1982: $ 220 1992: $ 390 2002: $ 1.100 2012: $ 5.720

Index der Menschlichen Entwicklung (HDI) 2013: Platz 101, zw. Jordanien und Turkmenistan

Politik: Die regierende Kommunistische Partei, einzig zugelassene politische Kraft, gab sich 2013 eine neue Führung unter Präsident Xi Jinping.

Die Herausforderung 2014: Im Juni jährt sich die Niederschlagung des Tiananmen-Aufstands zum 25. Mal.

In diesem Jahr jährt sich dieser Tag zum 25. Mal. Wie, glauben Sie, wird er in der Volksrepublik begangen werden?

Ich habe die Hoffnung, dass es eine offene Gedenkveranstaltung direkt auf dem Tiananmenplatz geben wird. Ich hoffe, dass wir eine wichtige Rolle dabei spielen werden. Ebenfalls hoffe ich, dass es eine friedliche Veranstaltung sein wird, an der die chinesische Führung ebenfalls teilnehmen wird. Ich gebe zu, die Chancen, dass es so kommen wird, sind gering.

Warum sagen Sie das dann?

Wissen Sie, ich und meine Mitstreiter leben seit fast 25 Jahren im Exil. Für uns ist Hoffnung ganz wichtig. Als Demokratie-Aktivisten wollen wir China auf friedliche Weise verändern. Wir sind keine Revolutionäre. Ansonsten würden wir nicht 25 Jahre lang im Exil sitzen, sondern zu den Waffen greifen. Aber nein, wir sind nicht militant. Wir setzen auf eine Zivilgesellschaft, die China politisch voranbringen soll. Möglich wäre das alles ja ohne Weiteres. Ich sage aber nicht, dass es momentan sehr wahrscheinlich ist.

Woher nehmen Sie diese Hoffnung?

Es gibt immer wieder Anzeichen. Seit Jahren erhöht die chinesische Führung ihr Budget für die innere Sicherheit. Es übersteigt inzwischen die Ausgaben für das Militär. Das zeigt doch, dass sie nervös ist und jederzeit einen Umsturz befürchten muss.

Sie hat einfach mehr Geld.

Mag sein. Zugleich sehe ich aber, dass der Frust im Land so groß ist wie schon lange nicht mehr. 25 Jahre lang hat das Regime versucht, die Menschen ruhigzustellen, indem es sie dazu gebracht hat, sich aufs Geldverdienen zu konzentrieren. Das ist aber ein sehr schlechter Deal. Die Menschen sind unzufrieden – zumal sich der versprochene Wohlstand für viele gar nicht erfüllt hat.

Einer Mehrheit geht es materiell heute aber besser. Trotzdem – das ist auch mein Eindruck – sind die Menschen unzufriedener.

Ich gebe einfach das wieder, was ein Netzbürger aus China neulich geschrieben hat: Ja, verglichen mit der Zeit unter den Qing-Kaisern geht es uns besser. Damals hatten wir nicht mal Elektrizität, heute besitzen wir Fernseher. Das liegt am technischen Fortschritt. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir uns nicht trotzdem Freiheit und weniger Unterdrückung wünschen. Vor 10 Jahren haben viele die Kommunistische Partei verteidigt: Das Land befinde sich in einem rasanten Wandel, man müsse sich gedulden. Heute sagen die meisten: Das Regime ist schlecht, daran ist nichts zu ändern. Das ist doch ein klares Zeichen dafür, dass das ganze System verrottet ist.

Schlimmer als 1989?

Auf jeden Fall. Damals hatten wir noch an die Führung geglaubt. China wurde freier, demokratischer. Die Öffnungspolitik war Staatsdoktrin. Wir wollten damals gar nicht das System stürzen. Uns ging die Öffnung nur nicht schnell genug. Heute geht China nicht mehr in diese Richtung, sondern ist zu einer Autokratie geworden für einige wenige Privilegierte, die dieses System mit eiserner Hand verteidigen.

Wie geht es Ihnen persönlich nach 25 Jahren?

Ich empfinde Wut und Verzweiflung. Ich bin wütend, dass ich immer noch im Exil bin und dass ich nicht angemessen meiner damals gefallenen Gefährten gedenken kann. Und sehr viel schlimmer: dass sich unsere gemeinsamen Hoffnungen von damals bis heute nicht erfüllt haben. Umso mehr brennt es mir auf den Nägeln, wieder in Aktion zu treten.

Ist das der Grund, warum Sie mehrfach versucht haben, nach China zu gelangen – obwohl Sie dort weiterhin die meistgesuchte Person sind?

Ja, das ist definitiv einer der Gründe. Ich will nach einem Vierteljahrhundert aber auch meine Eltern wiedersehen. Aber die chinesischen Behörden haben mich schon vor ihren Botschaften abgewiesen. Ich werde es 2014 weiter versuchen.

Haben Sie keine Angst vor der Haftstrafe, die Sie dort erwartet?

Doch, die habe ich. Aber dann gibt es endlich die Möglichkeit, dem chinesischen Staat von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten – wenn auch bloß im Gerichtssaal.

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