Avantgarde-Festival in Bremen: Liebe fast gleich Neue Musik!

Drei Tage, fünf Konzerte, 13 lebende Komponisten und für ganz mutige auch noch drei Gesprächskreise: Beim Festival der Bremer Projektgruppe Neue Musik gibts ab heute tüchtig auf die Ohren.

Nichts braucht die Menschheit dringender, als Neue Musik. Dummerweise weiß die große Mehrheit das nicht: Und die Chancen, dass sich daran etwas durch das Festival der Bremer Projektgruppe Neuer Musik ändert, das heute mit einem Konzert im Sendesaal beginnt, sind verschwindend gering – obwohl es an drei Tagen ein pickepacke volles Programm präsentiert, mit drei Diskussionsrunden und fünf Konzerten, bei denen Werke von 13 anwesenden und vier musikhistorisch kanonisierten KomponistInnen zur Aufführung gebracht werden, es ist wirklich viel.

Faust - Seite 44: Nur ein herausragender Pianist kann die Vorgaben dieser wilden Partitur angemessen umsetzen. Bild: [Ausschnitt] Trond Reinholdtsen

Das Festival heißt – und der wenig einladende Titel erinnert daran, dass auch die Szene der Neue Musik-Fans ihren Teil zu diesem Missverhältnis zwischen Menschheit und Neuer Musik beitragen – „Escape fastgleich Enter“. Dabei haben sich die ProgrammgestalterInnen total viel gedacht und obendrein das „Fastgleich“ nicht ausschreiben wollen. Stattdessen drücken sie es grafisch aus, verwenden dafür allerdings, warum auch immer, statt des „Annähernd“- oder des „Fastgleich“- das „Asymptotisch-gleich“-Zeichen: Vielleicht war’s ein Designer-Versehen. Aber vielleicht sollte es auch zusätzlich Verwirrung stiften. Ganz genau weiß man das nie.

Denn zu den Qualitäten Neuer Musik gehört ganz klar, zu verwirren. Also: Nicht allzu konsumierbar, sondern so widerborstig zu sein, dass man, wenn man mit ihr konfrontiert ist, sie wahrnehmen muss. Deswegen brauchen wir sie ja, weil Menschlichkeit ohne Musik nicht zu haben – und alle andere Musik leider längst zum bloßen Gleitmittel des Konsums geworden ist.

Sie dient der Lenkung von Kundenströmen – Discostampf hält muffige Mütter aus dem hippen Modeshop fern, wie zermuste Klassik die Fixer und Bettler von Hamburgs Hauptbahnhof vertreibt, und Jack White die heterogenen StadionbesucherInnen zu einer Supporter-Armee zusammenschweißt, die empfänglich ist für Merchandising-Artikel.

Überall, wo populäre Musik tönt, macht sie die Welt für den Markt zurecht, und weil der Markt nahezu überall ist, ist es so schwer populärer Musik zu entrinnen. Wer sie ohne Ekel über mobile Endgeräte in sein Hirn strömen lassen kann, hat sich bereits im Konsum verloren. Was nicht heißt, dass sie schlecht wäre. Sie ist vermutlich längst jenseits von gut oder schlecht: Sie ist nützlich.

Neue Musik dagegen ist zuverlässig anstößig. Mit Neuer Musik kann kaum jemand etwas anfangen. Sie passt sich nicht an. Sie ist auch in den allermeisten Fällen nicht käuflich, und im Radio findet sie vermutlich noch weniger statt als in der taz. Das aber macht sie so sexy – sofern man nicht den Fehler begeht, sich in irgendeine der drei mit hochkarätigen Experten besetzten Gesprächsrunden zu begeben, die nur Aufklärung leisten wollen und Zugänge legen und vermitteln – ach!, nichts gegen Aufklärung, nichts gegen das Denken. Es ist so vernünftig wie lange Unterhosen. Aber man kann sich fragen, ob das gut durchdachte Reden über sie, die Liebe zur Neuen Musik vergrößert, – oder nicht doch eher durch hermetische Fachlichkeit das dissuasive Potenzial erhöht. Also abschreckt.

Als könnte das Neue Musik nicht allein! Und vor allem: Sie kann im Schrecken ihres Klangs faszinieren und begeistern. Sie ist Geräusch, ist Getöse, Gequietsch und Gepieps, das man erst einmal nicht mögen muss, aber dem man sich eben dann doch auch nicht zu entziehen vermag. Sie kann sich quälend ins Bewusstsein einfräsen und es zu zärtlichen Träumen verführen, kann idyllisch sein, saukomisch und hochdramatisch, was nicht nur am 22. November im Konzertsaal der Hochschule für Künste durch die Deutsche Erstaufführung der Oper „Faust“ bewiesen werden wird, die der Norweger Trond Reinholdtsen 2011 geschrieben hat: „The Decline of Western Music“, also: der Untergang der abendländischen Musik, diesen Untertitel hat er ihr gegeben.

Reinholdtsen verfolgt seit Längerem ein Projekt, das er „Die Norwegische Oper“ betitelt – und in dessen Rahmen er sich den ganz großen Mythen des Abendlandes widmet. „Utopia“ heißt eine seiner musiktheatralischen Arbeiten, „Narcissus“ eine andere, und, besonders kühn, um nicht zu sagen: vermessen, „Orpheus“: Immerhin beginnt die Geschichte der Gattung Oper mit der Musikdramatisierung des Orpheus-Mythos.

In diese Reihe gehört natürlich auch die Mono-Oper Faust, die den Höhepunkt des zweiten der insgesamt fünf Konzerte bildet: Sie dauert 45 Minuten, und vorab gibt es ein paar Appetithäppchen. Zwei Pionierstücke der konkreten Musik, Yannis Xenakis Stahlbeton-Komposition „Concret PH“ und Edgar Varèses „Poème électronique“, zweieinhalb und acht Minuten, beide für die Atomium-Weltausstellung 1958 komponiert, plus ein etwas konventionell tönender Satz für Trompete und verstärktes Ensemble von der Polin Jagoda Szmytka.

Dann aber übernimmt Mark Knoop die Szene. Als „one of the most brilliant pianists of the contemporary repertoire“ hat die Sunday Times den Australier bezeichnet. Das bedeutet, dass er technisch extrem versiert ist – denn die zeitgenössische Musik verlangt häufig extreme Fingerfertigkeit. Außerdem verlangt sie von ihren Interpreten die Fähigkeit, unterschiedlichste Notationssysteme zu entschlüsseln. Mindestens bei Reinholdtsens „Faust“, die Knoop 2013 in Oslo uraufgeführt hat, kommt noch eine zusätzliche Anforderung dazu.

Der Pianist nämlich ist hier auch Performer. Als einziger Akteur auf der Bühne muss er die Elektronik und den Beamer steuern, vor, mit dem und gegen das Instrument agieren. Er lässt ein ferngesteuertes Auto durch den Saal zischen, setzt einen lärmenden Seifenblasenapparat in Gang und robbt sich, treu den auf die Leinwand projizierten Vorgaben einer wilden Partitur, unterm Flügel durch: Das ist eine kuriose Szene, zweifellos, aber sie ist zugleich, mit offenen Ohren wahrgenommen, die neugierige Erkundung eines Schleifgeräuschs, das sich nicht zweimal gleich herstellen lässt, sich der Wiederholung entzieht, sich durch Wiederholung verändert: Verrücktes, großes Musik- und großartiges Welttheater.

Bremen: 21. - 23. 11., Programm unter:
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