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Autorin über den Umgang mit Autismus„Die Diagnose hat mir das Leben gerettet“

Die ehemalige Lehrerin Stephanie Meer-Walter wurde zunächst falsch therapiert. Durch die Diagnose Autismus kommt sie jetzt mit ihrem Leben zurecht.

Hilft Autisten: Möglichkeit zum geräuscharmen Einkaufen Foto: Lars Penning/dpa

taz: Frau Meer-Walter, Sie haben im Vorfeld um eine konkrete Zeit für dieses Gespräch gebeten, weil Sie das weniger stresse. Warum?

Stephanie Meer-Walter: Wenn ich jetzt einfach gesagt hätte, ich kann ab 17 Uhr, würde ich ab 17 Uhr hier sitzen, Angst haben und das Telefon wie gelähmt anstarren, bis es klingelt. Denn telefonieren ist etwas, das für viele autistische Personen unangenehm ist. Wenn ich nicht weiß, dass ich angerufen werde, kann es passieren, dass ich aus einem Gedanken rausgerissen werde und spontan zu einem anderen Thema wechseln muss. Das fällt mir sehr schwer. Mit festem Termin kann ich mich mental darauf vorbereiten.

taz: Sie haben Ihre Diagnose mit Mitte 40 erhalten. Wie kam es dazu?

Meer-Walter: Im Rückblick war ich spätestens seit dem Studium, eher schon früher, depressiv. Mitte 40 hatte ich zunehmend suizidale Gedanken. Ich habe mir Hilfe durch Psychotherapie gesucht. Ich hatte ja auch eine Tochter! Durch Zufall gab es mehrere Wechsel. Die dritte Therapeutin hat schnell den Gedanken geäußert, ich könnte Autistin sein. Die Diagnostik hat das bestätigt. Das hat mir das Leben gerettet. Ich war mit meinen Depressionen zwar schon vorher in Behandlung, auch in einer Klinik, aber die Methoden haben für mich einfach nicht funktioniert wie für neurotypische Menschen.

Lesung und Gespräch: Wie geht Autismus in der Schule? 2. 4., 18 Uhr, Wall-Saal, Stadtbibliothek Bremen, Am Wall 201, Eintritt frei, ohne Anmeldung, begrenzte Plätze

taz: Zum Beispiel?

Meer-Walter: Am Wochenende, haben sie gesagt, sollen wir unter Menschen gehen. Ich brauchte das Wochenende aber, um mich zu erholen, weil die Klinik so anstrengend war. Dann hieß es am Montag: Wenn Sie nichts für Ihre Genesung tun… Damit habe ich mich so falsch gefühlt, obwohl mir das ruhige Wochenende doch gut getan hat. Ganz viele autistische Menschen gehen über ihre Grenzen.

taz: Ihr Buch heißt „Autistisch? Kann ich fließend! Eine Übersetzungshilfe“. Haben Sie noch ein Beispiel für Missverständnisse?

Meer-Walter: Als ich noch Schulleiterin war, hatte ich mit einem Kollegen eine Auseinandersetzung in meinem Büro. Wir haben diskutiert, dann hat er gesagt: Können Sie nicht mal Fünfe gerade sein lassen? In meinem Kopf ploppte eine dreidimensionale Fünf auf, und ich stellte mir die Frage, wo ich denn nun die Feile ansetzen müsste, um die Fünf gerade zu machen. Ich fand keine Lösung. Also habe ich Nein gesagt. Dann meinte er, er mache jetzt nur noch Dienst nach Vorschrift. Super, habe ich gedacht und innerlich gejubelt. Erst später habe ich verstanden, dass das eher eine Drohung war und was er mit der Redewendung überhaupt gemeint hatte.

taz: Was ist Autismus?

Meer-Walter: Das Gehirn ist anders verdrahtet. Das führt zu einer ganz anderen Wahrnehmung: Ich nehme Reize sehr viel intensiver wahr, als ob ich keinen Filter hätte. Wenn ich im Restaurant sitze, höre ich alle Gespräche. Ich kann nichts ausblenden. Bei sozialer Interaktion fehlt mir der Autopilot. Während nicht autistische Menschen intuitiv eine Situation und ihr Gegenüber einschätzen, muss ich das alles kognitiv machen. Das kostet unheimlich viel Energie – und oft liege ich mit meiner Einschätzung auch noch falsch.

Stephanie Meer-Walter

54, ist Autorin, Referentin und frühpensio­nierte Lehrerin.

taz: Was hilft Ihnen?

Meer-Walter: Je mehr Routinen und Sicherheit ich habe, desto besser. Von außen wirkt das stur und rigide, es ist aber einfach eine Bewältigungsstrategie. Bestimmte Bewegungen oder ein Summen können auch helfen, weil das beruhigt. Übrigens nutzen so etwas alle Menschen, aber die meisten geraten einfach nicht so schnell unter Stress. Ich bin recht schnell erschöpft, weil alles über den Kopf geht.

taz: Wie kann die Schule für Kinder mit Autismus besser gestaltet werden?

Meer-Walter: Vieles ist leicht und nützt sogar allen Kindern: gut strukturierte Abläufe im Klassenzimmer, ruhige Ecken auf dem Schulhof oder in der Kantine, alternative Orte für Pausen, Rückzug erlauben. Die Lehrenden müssen informiert sein und Kindern auch glauben, wenn sie sagen, dass ihnen etwas schwerfällt.

taz: Wie geht es Ihnen jetzt am Ende unseres Gesprächs?

Meer-Walter: So weit gut, weil ich zu den Fragen etwas sagen konnte. Und ich bin froh, dass es gleich zu Ende ist.

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2 Kommentare

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  • Dieser Tage sah ich im TV den aufwühlenden Film Hors-Normes.



    youtu.be/63efWAPLj...i=ntW06qOizojGh5-g



    Ich weiß nicht, ob es den in Deutschland auch zu sehen gibt, aber zum Verständnis von Autisten und ihrem Umfeld ist er grandios

  • Ein gute Schritt in Richtung Inklusion. Interviewen Sie gerne mehr neurodiverse Menschen!